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In unseren Medien kommt Bosnien-Herzegowina seit geraumer Zeit so gut wie nicht vor. Wir werden zwar täglich sorgfältig informiert, wenn Albaner und Mazedonier, Albaner und Serben - oder umgekehrt - einander umbringen. Da aber in Bosnien-Herzegowina (BIH) zur Zeit kein Blut fließt, ist die Region für die Verantwortlichen unserer Medien uninteressant - und wir Konsumenten bleiben in diesem Sinne dumm.
Aber das Studium nur einer, allerdings der führenden und als seriös bekannten Wochenzeitung in BIH "Dani" ("Tage") in den letzten Monaten bietet ein höchst interessantes und dramatisches Bild: Es bahnt sich offensichtlich eine weitreichende kritische Auseinandersetzung an in diesem Staat, in dem zwischen 1992 und 1995 der Krieg wütete und seit dem Dayton-Abkommen ein ganz und gar nicht beruhigender Frieden einkehrte. Nicht beruhigend, weil es seither auf keinem wesentlichen Gebiet einen für die Menschen spürbaren Fortschritt gegeben hat.
Wirtschaftlich liegt das Land am Boden, sozial ist es nach wie vor beherrscht von ethnischen Spannungen. Internationale Präsenz hat offensichtlich Hoffnungen nicht erfüllen können - das alles hat unzählige individuelle Tragödien und kollektive Perspektivlosigkeit zur Folge.
Die Auseinandersetzungen nehmen sowohl die einheimischen Akteure aufs Korn als auch die Vertreter der internationalen Gemeinschaft. Letzteren wird in vielfachen Variationen "Arroganz, Dilettantismus und Oberflächlichkeit" im Umgang mit ihren Aufgaben und Gesprächspartnern in BIH vorgeworfen. Auch der Hohe Beauftragte für Bosnien-Herzegowina, Wolfgang Petritsch, bisher allgemein respektiert, bleibt nicht verschont. Der Ton wird unüberhörbar rauher.
Widerstand gegen Dayton
Immer häufiger wird die Revision des Dayton-Abkommens gefordert - womit die verfassungsmässige Voraussetzung für ein einheitliches BIH mit gleichberechtigten Bürgern anstelle seiner Aufteilung in Republika Srpska und die kroatisch-muslimische Föderation verstanden wird. Jene, die diese Forderung stellten, fürchten allerdings, dass die Diskussion darüber die "Unmöglichkeit, miteinander leben zu können", bestätigen könnte, weil weder von serbischer noch von kroatischer Seite eine Zustimmung zu erwarten wäre. Nicht erleichtert werde die Situation durch die "Tatsache, dass die große internationale Familie eine Ölphobie gegen den Islam" entwickelt habe - eine Gefahr, die auch Bosniaken nicht übersehen könnten.
Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang auch, dass "Dani" wiederholt Fragen der Vergangenheit aufwirft, der politischen Verantwortung für Krieg und Fanatisierung, und dabei nicht zimperlich umgeht mit dem inzwischen zurückgetretenen Präsidenten Alija Izetbegovic, mit hohen Offizieren auch der bosnischen Armee, mit gestrigen und heutigen Politikern in BIH, mit der erschreckend verbreiteten Korruption in Ministerien und von hohen Funktionären, die mit Namen und Adresse erwähnt werden.
Aber auch die Politiker des Westens, die für die Friedensverhandlungen verantwortlich waren, bleiben nicht ungeschoren. Von dem portugisischen Diplomaten José Cutiliero, der 1992 als erster den Gedanken der "ethnischen Kantone" ins Spiel gebracht hatte, bis zu Lord Owens (er war Ex-EU-Beauftragter) skandalösem Lunch bei dem Ehepaar Milosevic wird minutiös analysiert und "aufgearbeitet".
Globalisierung: Nicht so
Im Zusammenhang mit den antiglobalen Demonstrationen in Genua hat Professor Zdravko Grebo, Völkerrechtler an der Universität in Sarajewo (und in London) großes Verständnis für die jungen Leute (natürlich nicht für die gewalttätigen unter ihnen), weil er das Angebot der "neuen globalen Ideologie" als Betrug empfindet, mit dem versucht werde, eine universale Lösung für die großen Probleme des klassischen Liberalismus und der Marktwirtschaft anzubieten. Kein Verständnis hat er allerdings für die einheimischen jungen Menschen, die nur den einen Wunsch haben, nämlich das Land zu verlassen - statt zu bleiben und sich am Aufbau einer Zukunft Bosnien-Herzegowinas engagieren.
Der Mangel an umfassenden Reformen in den vergangenen sechs Jahren ist eine weitere kritische Position, die immer wieder auftaucht. Die wiederholten Wahlen böten keine realen Chancen, die bestehenden Machtverhältnisse zu ändern. Vor allem müssten die Universitäten reformiert werden - auch eine Voraussetzung dafür, die junge Generation zu motivieren. Der Durchschnitssprofessor an der Uni in Sarajewo ist über 50, ohne Kenntnis einer Fremdsprache, ohne Kenntnis der zeitgenössischen internationalen Literatur seines Fachs, benützt weder Computer noch Internet, die letzte Publikation war vor 10 Jahren... . In Tuzla, das wie alle Kantone eine eigene Universität hat, wurde nun vor einigen Monaten eine Reform begonnen. Wichtigste Ziele: Verjüngung der Lehrkräftekader und die Aktivierung wissenschaftlicher Forschungen. Das größte Problem dabei sei aber, dass es in BIH keinen Bedarf an einer solchen Tätigkeit gebe; auch darum sollten die Universitäten zusammengelegt werden. Aber es wird als Priorität für die Zukunft BIHs gesehen, das gesamte Bildungssystem von Grund auf zu reformieren. Wie aber soll das in einem Land möglich sein, in dem das Pro-Kopf-Einkommen bei 1.000 Dollar liegt? Nicht nur das nichtvorhandene Geld sei aber ein Hindernis, auch die Mentalität der Leute. "Die Bildungsreform muss vor allem in den Köpfen der Verantwortlichen stattfinden", erklärt Prof. Dr. Mirza Kusljugic, Dekan der Elektrotechnischen Fakultät in Tuzla. BIH habe in den letzten Jahren für den Hochschulbereich und die Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Unterrichtszweiges rund 20 Mill. Dollar erhalten. Wenig, gemessen daran, dass die Hilfe an sich in Milliardenhöhe liegt. Nach dem Grund gefragt, sagten die Vertreter der internationalen Gemeinschaft: "Ihr hattet diesen Bereich nicht als prioritär definiert."
Verpufftes Geld
Zur Erinnerung: Von den großen Summen, die aus internationalen Quellen jährlich zum Wiederaufbau nach BIH fließen, gehen etwa 80 Prozent eineseits an die Korruption verloren, andererseits für die Erhaltung der internationalen Vertretungen in diesem Land, dem, mit anderen Worten, für den tatsächlichen Bedarf 20 Prozent bleiben.
Die vielleicht schockierendsten Fakten aber lieferte die Ministerin für Außenhandel und Wirtschaftsbeziehungen, Azra Hadjiahmetovic, die ein wahrhaft schweres Erbe antritt, das die vorige Regierung hinterließ. 83 Prozent der Bevölkerung in BIH leben in Armut! Das heißt, dass generell der Lebensstandard auf etwa 50 Prozent des Vorkriegsniveaus liegt. Sie illustriert das deprimierende Bild mit folgenden Details: Drei Viertel der Bevölkerung können nicht die existenziellen Mittel ihrer Existenz erwirtschaften, der größte Teil lebt von 200 DM im Monat. Die Unterschiede zwischen Föderation und Republika Srpska (RS) sind in dieser Hinsicht minimal, in der Republika Srpska ist alles noch schlechter. In BIH können etwa 12,5 Prozent aller Haushalte mit 4 Personen ein Einkommen von 1.000 DM erreichen, in der RP sind es 4,3 Prozent. Dazu kommt, dass nur 2 Prozent der Bevölkerung soziale Unterstützung auf Grund ihrer Armut erhalten. Am schlimmsten ist die Lage der Arbeitslosen und der Rentner.
In BIH entspricht die Zahl der Rentner genau der Zahl der Arbeitnehmer. Die Rente liegt im Durchschnitt bei 180 DM. Rund die Hälfte der Rentner erhält aber nur weniger als diesen Durchschnitt. Unter der Armutsgrenze leben in der Föderation die Vertriebenen und die Flüchtlinge (die wir, die westeuropäischen Gastländer zurückgeschickt haben!), das sind um die 45 Prozent der Bevölkerung. Jüngste Statistiken sprechen davon, dass jeder Haushalt in der Föderation mindestens ein chronisch kriegsversehrtes Mitglied aufweist. Eine wichtige Herausforderung für die Zukunft liegt nicht zuletzt darin, dass rund 40 Prozent der arbeitsfähigen Einwohner BIHs demobilisierte Soldaten ausmachen. Welchen Stellenwert diese Tatsache in Bezug auf soziale und politische Spannungen einnimmt, ist nicht schwer zu erkennen.
Investitionen aus dem Ausland sind das A und O der Entwicklung in BIH. Das Vertrauen im Westen war in diesem Zusammenhang bisher minimal. Für einen Moment schien es stimuliert. Als im Frühjahr eine neue Regierung in BIH nach den skandalösen Inzidenten in Banja Luka, Mostar und Trebinje (ethnisch und religiös motivierte Aggressionen, initiiert von lokalen Machthabern) antrat, ist der Pegel des Interesses sofort wieder gesunken.
Wo bleibt der Westen?
"Bosnien-Herzegowina kann mit der Aufnahme in die EU unter den Umständen einer positiven Dynamik in diese Richtung im Jahr 2010 rechnen", sagt die Handelsministerin am Ende des Interviews. Sie stellte die Frage nicht, die viele andere stellen: Hat der Westen etwa kein Interesse daran, dass sich diese Region im wirtschaftlichen Bereich positiv entwickelt? Die Tatsache, dass zwar nicht investiert, wohl aber Unternehmen gekauft werden, könnte einen solchen Verdacht erhärten.
Schließlich noch eine positive Information, die in allen Medien BIHs gebührend gefeiert wird: Zum 3. Mal ist es jungen Bosniern gelungen, im internationalen Wettbewerb zwischen Mathematikschülern zu den Besten der Welt zu gehören!
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Die Autorin ist Herausgeberin der Zeitschrift "Balkan/Südosteuropäischer Dialog"