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"Nichts mehr zu verlieren"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Weißrussland erlebt derzeit die größten Demonstrationen seit Jahren. Die Proteste, die sich an einer Strafgebühr für Arbeitslose entzündet haben, richten sich mittlerweile direkt gegen den mit harter Hand regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko.


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Minsk. Es sind Bilder, wie sie Weißrussland schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat. "Lukaschenko, geh!", skandierten am vergangenen Mittwoch tausende Protestierende in der Hauptstadt Minsk. Auch in anderen Städten des Landes sind in den letzten Wochen hunderte Menschen auf die Straße gegangen, um ihren Unmut zu äußern.

Der Protest hat viele Gesichter. Wie das von Natalia, einer pensionierte Zahnärztin, die für ein "würdiges Leben" demonstrierte. Sie rechnet vor: 186 Rubel, rund 91 Euro, erhält sie an monatlicher Rente. "Wie soll ich davon leben?", fragt sie. Oder Michail, ein junger Programmierer aus Minsk, der mehr Bürgerrechte fordert und gegen den Bau des ersten weißrussischen Atomkraftwerkes eintritt. "Die Menschen haben keine Möglichkeit, auf Entscheidungen Einfluss zu nehmen", klagt er. Ursprünglich hatten sich die Proteste an der sogenannten "Sozialschmarotzer-Steuer" entzündet. Weißrussische Bürger, die im Jahr länger als sechs Monate ohne Beschäftigung sind, müssen neuerdings eine jährliche Gebühr von 180 Euro zahlen. Die "Sozialschmarotzer-Steuer" wurde bereits 2015 beschlossen. Doch am 20. Februar dieses Jahres endete laut Steuerbehörde die Zahlungsfrist für 470.000 Betroffene. Bisher soll allerdings nur jeder Zehnte die Steuer gezahlt haben.

"Einmischung von außen"

Das Regime hat bisher mit einer Mischung aus Zugeständnissen und Repressionen auf die Proteste reagiert. Lukaschenko hat in der vergangenen Woche angeordnet, die Steuer zumindest in diesem Jahr auszusetzen. Doch die Proteste gingen weiter. Daraufhin sind in den vergangenen Tagen laut Menschenrechtsorganisationen knapp 200 Protestteilnehmer, vor allem Oppositionspolitiker und Aktivisten aus dem Anarchisten-Kreis, verhaftet und zu mehrtägiger Administrationshaft verurteilt worden. Zuvor hatte Lukaschenko per Ukas angeordnet, die "Provokateure wie Rosinen aus den Brötchen herauszupicken".

Das hat die Proteste aber vorerst nur noch weiter angefacht - und politisiert. Die Forderungen gehen mittlerweile weit über die Abschaffung der Steuer hinaus und sind zu einem allgemeinen Ventil für die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage in der Ex-Sowjetrepublik geworden. Immer direkter richten sich die Proteste gegen den Autokraten Lukaschenko, der das Land seit 23 Jahren mit eiserner Hand führt.

Es ist bemerkenswert, dass es gerade auch Arbeiter und Pensionisten sind - eigentlich die Machtstütze Lukaschenkos -, die für gerechte Löhne und Pensionen eintreten. Oppositionelle Medien sprechen sogar vom "Frühling von Weißrussland". Für Minsk kommen die Proteste zur Unzeit. Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist es zu einer leichten Annäherung zwischen Minsk und Brüssel gekommen. Nachdem Lukaschenko der Forderung des Westens nachgegeben hatte, politisch Inhaftierte wie den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Mikalaj Statkewitsch freizulassen, wurden vor einem Jahr die westlichen Sanktionen aufgehoben. Zu Beginn dieses Jahres hat Lukaschenko für 80 Länder, darunter die EU-Mitgliedstaaten, Visumerleichterungen beschlossen. Zudem hofft Lukaschenko auf einen Kredit des Internationalen Währungsfonds.

Minsk stehe angesichts der Proteste vor einem schwierigen Balance-Akt, schreibt der Publizist Aljaksandr Klaskouskij. Denn wenn die Proteste mit weiteren Repressionen eingedämmt werden, könnte das in Brüssel rasch wieder zu Unmut führen. So wurden just an dem Tag, an dem der belgische Außenminister Didier Reyndrs in Minsk zu Gast war, im Stadtzentrum rund 40 Protestteilnehmer, teilweise von Männern ohne Hoheitsabzeichen, brutal abgeführt. Dabei hatte es sich bei den Protesten um eine von den Behörden genehmigte Aktion gehandelt. Im staatlichen Fernsehen wurden die Proteste als "naziähnlich" verunglimpft. Lukaschenko selbst sprach am Montag von einer Einmischung "von außen", bei der "westliche Spione" die Fäden ziehen würden.

Aufgeschobene Reformen

Von nichts Geringerem als der "größten Krise für das Modell Lukaschenko" spricht der Politologe Waler Karbalewitsch. Lange Zeit sei es Lukaschenko mithilfe russischer Subventionen gelungen, den Lebensstandard der Weißrussen vergleichsweise hoch zu halten, ohne jedoch - im Unterschied zu den Nachbarländern in den 90er Jahren - schmerzhafte Reformen durchzuführen. "Aber jetzt erlebt dieses Modell eine Krise", sagt er. Immerhin steckt Russland selbst in einer Wirtschaftskrise. Und dass seit 2016 erstmals seit Jahren wieder zwei Oppositionspolitikerinnen im Parlament in Minsk sitzen, habe den Mut der Menschen angefacht, so Karbalewitsch: "Das erinnert an die Situation der Glasnost unter Gorbatschow, als das System von oben gelockert und so von der Gesellschaft durchbrochen wurde."

Freilich kann von einem großen Durchbruch noch nicht die Rede sein. Vorerst sind die Proteste nur auf wenige tausend Menschen beschränkt. Für den 25. März sind in Minsk aber die nächsten Massenproteste angekündigt. Dass sie weitergehen, davon ist auch die pensionierte Zahnärztin Natalia überzeugt. "Die Menschen haben einfach nichts mehr zu verlieren."