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Kriminalsoziologe Nils Zurawski über die gefährliche Entwicklung, Konflikte durch mehr Überwachung lösen zu wollen.
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Wien. Dass mit einer vehementen Videoüberwachung auch nur ein soziales oder politisches Problem gelöst werden kann, ist für den Kriminalsoziologen Nils Zurawski sehr unwahrscheinlich. Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" erklärt er außerdem den Zusammenhang von Freiheit und Sicherheit und kritisiert politische "Hau-Drauf-Rhetorik".
"Wiener Zeitung": Herr Zurawski, versuchen wir den Verlust an sozialer Sicherheit mit einem Mehr an vermeintlicher Sicherheit durch Überwachung auszugleichen?
Nils Zurawski: Beim politischen Diskurs geht es fast ausschließlich um die Sicherheit vor Kriminalität, vor Terror. Also eine abwehrende Sicherheit vor Bedrohungen. Über vitale Sicherheit, also Schutz vor Arbeitslosigkeit, prekären Verhältnissen, oder auch Verkehrssicherung wird dann nicht mehr gesprochen. In Westeuropa bleiben wir ja - von Ausnahmen wie Madrid und London abgesehen - vom Terrorismus verschont. Um uns brennt die Welt und wir haben doch im Vergleich sehr stabile Verhältnisse. Das ist ein Privileg und wir müssen uns überlegen, welche Sicherheit wir überhaupt wollen.
In Wien wurde im vergangenen Jahr vor allem die Verhältnismäßigkeit im Bezug auf polizeiliche Aktionen diskutiert - Stichworte Räumung der "Pizzeria Anarchia" mit 1700 Polizisten oder das Vermummungsverbot in den Bezirken um den WKR-Ball. Sehen Sie da einen globaleren Trend?
Das erscheint mir schon so. Die Rhetorik lautet: Wir dürfen nirgendwo rechtsfreie Räume entstehen lassen. Dabei ist Dagegen-Sein eigentlich gutes Bürger-Engagement und in den Grundgesetzen erlaubt, wenn nicht sogar erwünscht. Kleiner Vorfall, große Reaktion - das beobachtet man häufig. Dahinter steckt diese Sicherheitslogik: Einmal gnadenlos zuschlagen, damit nie wieder etwas passiert. Die Angst vor Dissens und Eigensinn wächst. Die Mainstream-Norm, dessen, was erlaubt ist, wird dagegen immer kleiner.
Sind Freiheit und Sicherheit wirklich zwei Seiten einer Medaille?
Ein Argument der Politik ist, dass es immer ein Abwägen gibt zwischen Freiheit und Sicherheit. Aber wenn man in einem Sicherheitsstaat lebt, dann wird es unsicher, die eigenen Freiheiten zu leben. Wenn ich mir sie aber nehme, mache ich mich wieder unsicher, denn dann werde ich zum Störenfried. Es ist also eher ein Kreis als eine Medaille. Dieses Versicherheitlichen von allem Möglichen tut uns nicht gut, weil andere Möglichkeiten, Konflikte zu lösen, auf der Strecke bleiben. Da will sich der Staat vor den Bürgern absichern und sieht sie als Gefahr. Das ist eine absurde, ungute Entwicklung. Wir alle sind der Staat.
Im Zusammenhang mit Überwachung hört man oft: "Ich hab ja nichts zu verbergen." Ist das nicht etwas unbedarft?
Der Wiener Beschwerdechor hat bei der Eröffnung des Festivals so treffend gesungen: Wer nichts zu verbergen hat, hat alles verloren. Jeder Mensch braucht eine Privatsphäre. Zum Beispiel auch Obdachlose. Es gibt Untersuchungen aus England, die zeigen, dass Obdachlose sich oft absichtlich in überwachte Bereiche zum Schlafen legen - zur eigenen Sicherheit. So werden sie sichtbar, bekommen eine Identität. Es gibt niemanden, der nichts zu verbergen hat. Der Spruch ist also wirklich unbedarft, falsch und dumm. Man kann das ganz schnell heraus kitzeln, wenn man zum Beispiel sagt: Dann laden Sie mich doch nach Hause ein. Da hört man dann: "Natürlich nicht! Wo kämen wir denn da hin?" My home is my castle. Und dieses Recht muss natürlich auch diskussionslos und begründungslos geschützt werden.
Gibt es diesen privaten, geschützten Bereich in Zeiten von Cyber-Überwachung überhaupt noch?
Ja, meinen Kleiderschrank zum Beispiel (lacht). Mein Kopf, meine Gedanken. Die Frage ist, was jemand über mich weiß, wenn er meine E-Mails liest. Meinen Studierenden erzähle ich ja auch von meiner Familie, aber letztlich kennen Sie mich nicht. Indem ich mir eine öffentliche Person erschaffe, halte ich eine andere Persona verborgen. Es heißt immer, Menschen geben etwas von sich preis, wenn sie etwas auf Facebook posten. Nein, sie geben nur eine bestimmte Rolle preis. Sie zeigen sich so, wie sie gesehen werden wollen.
Überwiegt also die Paranoia?
Paranoia heißt ja nicht, dass sie nicht hinter einem her sind (lacht). Die Überwachung durch die NSA ist natürlich indiskutabel, aber leider nicht verhinderbar. Auch nicht in der Zukunft. Diese Art von Paranoia vergiftet Gesellschaft und Erziehung nachhaltig. Sie führt zu einem ständigen Verdächtigen, zu Angst und Misstrauen zwischen den einzelnen Gruppen, zwischen Staat und Bürger.
Welche langfristigen Folgen könnte das konkret für unsere Gesellschaft haben?
Wir haben ein Langzeitbeispiel - die DDR. Da kann man sehen, was Überwachung auf die Dauer mit Menschen macht. Ich hatte eine Kollegin, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist und sie hat sich nie getraut, am Telefon offen zu reden. Wenn es etwas zu besprechen gab, hat sie unter Vorwänden aufgelegt, kam drei Stockwerke hinauf in mein Büro und schloss die Tür, um unter vier Augen reden zu können. Mit meinen Wiener Kollegen haben wir eine Studie durchgeführt, für die wir Menschen in Österreich, Italien, Deutschland und Slowenien interviewt haben und wir haben festgestellt, dass sie sich durchaus des digitalen Alltags und seiner Folgen bewusst sind. Sie entwickeln entweder Strategien, das zu umgehen oder zeigen einen gewissen Fatalismus. Aber vor allem wägen sie rational ab und versuchen eine gewisse Risikominderung. Die Leute sind nicht so dumm und unbedarft, wie manche denken.
Es gibt ja auch kaum Alternativen.
Ja, unser Alltag ist digital. Das Handy ist kein Telefon mehr, sondern unser Organizer, der uns den ganzen Tag begleitet. Kein Tag ohne Internet - auch für mich nicht. Aber wie viel Privates könnten Sie dort wirklich über mich herausfinden? Wie viele Kinder ich habe? Meine Adresse? Eher nicht.
In Wien gibt es eine "NSA-Villa", die für Open Source Intelligence genutzt wird, also für die Auswertung öffentlich zugänglicher Daten. Die US-Botschafterin Alexa Wesner sagte, dort geschehe nichts Geheimes.
Doch, natürlich läuft dort etwas Geheimes ab, nämlich die Interpretation. Wie und warum werde ich kategorisiert? Und warum ich? Das bleibt uns verschlossen. Alles was ich jetzt gesagt habe, ist harmlos. Aber was der Verfassungsschutz hineininterpretieren könnte, weiß ich nicht.
Zur Person
Nils Zurawski
Der deutsche Kriminalsoziologe und Ethnologe Nils Zurawski, geboren 1968, erforscht urbane Sicherheit und Überwachung. Er ist Professor für Kriminologie am Institut für kriminologische Sozialforschung an der Universität Hamburg. Zuletzt sprach er in Wien bei der Eröffnung des Stadtforschungs-Festival "Urbanize" am Karlsplatz.