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Ein Leben wie eine Achterbahnfahrt: Wie die Usbekin Xenia dem Horror in Russland entkam, in einem Hospiz wieder Lebensfreude fand und Wien als Stätte der Seelentherapie erlebt.
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Xenias Wohnung in Belvedere-Nähe ist mit einer Rampe ausgestattet. Die braucht sie für ihren Rollstuhl. Den Wohnzimmertisch hat die 40-jährige Usbekin mit Torte, Keksen und einer Schale einzelner Schokoladenrippen gedeckt. Usbekische Gastfreundschaft. Kater Niki rollt sich sofort auf meinem Schoß ein und startet den Schnurr-Motor. "Oj, wo fange ich an?", fragt Xenia mit aufgerissenen Augen und spannt den Erzählbogen ihrer fast unglaublichen Lebensgeschichte von einer unbekümmerten Kindheit in Usbekistan zu den Bemühungen um österreichisches Asyl:
Österreich als "einzige Chance"
Im September 2006 sitzt Xenia mit ihrem Mann im Flugzeug von Moskau nach Wien. Was genau sie erwartet, weiß sie nicht. Es ist damals ihre "einzige Chance auf ein Leben", sagt sie und meint damit nicht nur die lebensrettende Operation in Österreich. Die heute 40-Jährige sitzt wegen eines Suizidversuchs im Rollstuhl.
Xenia wächst im usbekischen Utschkuduk auf, ein Städtchen in der Wüste Kysylkum, die sich im Norden an die Seidenstraße schmiegt. Hier führt sie 22 Jahre lang "ein glückliches, unbeschwertes Leben als sonniges, asiatisches Mädchen". Die Eltern, ethnische Russen, kehren Usbekistan Mitte der Neunziger Jahre wegen nationaler Konflikte und der tristen Wirtschaftslage den Rücken. Mit der Migration ins 3.000 Kilometer entfernte Moskau beginnt Xenias "schwärzeste Zeit". Zuerst hasst sie das Wetter, die Minusgrade, der Kulturschock trifft sie hart. Dann sind es zunehmend die harten Lebensrealitäten am Rande des Existenzminimums, mit denen die Familie zu kämpfen hat.
Während der Zusammenbruch der Sowjetunion für viele im Westen vor allem mit Freiheit für die Menschen verbunden ist, stürzte der neue Zustand die Menschen vor Ort in eine tiefe Krise. Russland steht damals am Rande der Hyperinflation, die Geldentwertung hat für viele Familien den finanziellen Ruin zur Folge. Als Xenias Mutter Ende der Neunziger Jahre an den Folgen einer Krebserkrankung stirbt, versucht sie das Geld für die Beerdigung auf dem Strich zu verdienen. "Gottseidank habe ich es nicht geschafft." Der erste Mann, der vor ihr mit dem Auto hält, kurbelt das Fenster hinunter und sagt: "Hier ist nicht dein Platz." Sie brauche jedoch 400 Rubel, um die Mutter zu bestatten. Er schenkt ihr das Geld. Es sind menschliche Begegnungen wie diese, die die wenigen Höhepunkte in Xenias Leben markieren.
"Physiotherapie" mit Kakerlaken
Eigentlich heißt Xenia Oxana, den Namen empfindet sie schon in der Kindheit als Strafe. Nur wenn das Mädchen etwas angestellt hat, rufen die Eltern nach Oxana. "Als ich vom 6. Stock eines Hochhauses gesprungen bin, ist Oxana gestorben", erzählt sie. Xenia hat genug, sich mit ihrem kargen Verdienst als Zugführerin bei der Bahn durchzuschlagen und sich in Beziehungen mit Männern für ein Dach über dem Kopf zu "prostituieren". Mit nichts als einer perspektivlosen Zukunft vor Augen entscheidet die junge Frau am einjährigen Todestag der Mutter ihr Leben zu beenden: "Ab dem Zeitpunkt habe ich nicht mehr mit Russland gekämpft, sondern um mein Leben." Ein Jahr liegt sie vom Kopf abwärts gelähmt bewegungslos im Krankenhaus, wo es Betreuung und Pflege nur gegen Geld gibt. Wochenlang wird sie nicht umgedreht, ihr Körper dem Zerfall überlassen. Xenia erzählt von der nächtlichen "Physiotherapie", das daraus bestand, ihre Finger in Raupenbewegungen zum Gesicht zu schieben, um Kakerlaken zu verscheuchen. "Ein großer Ansporn und ein gutes Spiel!", lacht sie. Nach knapp zwei Jahren hat sie keine Kraft mehr zu kämpfen.
Auf eigenen Wunsch wird sie ins Hospiz verlegt, um dort "endlich bald sterben zu dürfen." Just im Haus der Sterbebegleitung fasst sie wieder Lebensfreude, lebt von Tag zu Tag und ist glücklich, weil sie nicht mehr an eine Zukunft denkt. "Ich war der Liebling in der Station, wahrscheinlich weil ich die Jüngste war - mein Zimmer war immer voller Menschen. Es war eine Zeit des Hungers und der Entbehrungen, aber wir haben alles geteilt. Zigaretten habe ich mir mit Singen verdient", lacht sie heute. Nach anderthalb Jahren konnte sie wieder sitzen und die Arme bewegen. "Hast du noch einen Traum?", fragt sie eine Schwester. Den hat sie. Ein letzter Wunsch, der gleichzeitig ein erster Schritt zurück ins Leben ist.
Ärzte resignieren
Juri, ein Mann aus der Gemeinde, der in der Umgebung Ausflüge für unterprivilegierte Kinder organisiert hört "vom Mädchen im Hospiz, das davon träumt, noch ein Mal im Gras zu sitzen und einen Baum zu umarmen", erzählt Xenia lächelnd. Zwei Wochen später sitzt Xenia in seinem Auto, spürt den Fahrtwind und weint vor Glück. Juri ist es, der das "optimistische, asiatische Mädchen", das sie aus ihrer Jugend in Usbekistan beschreibt, wieder aus ihr heraus lockt. Nach einem Jahr sind sie verheiratet. Xenia möchte wieder leben, doch aufgrund ihres schlechten Zustandes lehnen die Ärzte eine Operation ab: "Sie ist schon fast eine Leiche!", hört sie einen Mediziner resignierend sagen. Insgesamt 13 Operationen an Wirbelsäule und Blase hat sie zu diesem Zeitpunkt schon hinter sich. Der Eingriff, der ihren Körper wieder funktionstüchtig machen kann, wird zu der Zeit nur in zwei Ländern weltweit durchgeführt: Israel und Österreich.
Xenia erinnert sich an die Schreckensszenarien, die im Kommunismus durch russische Medien über Europa peitschen. Sie beschließen schließlich trotzdem in Österreich Asyl zu beantragen. "Juri sagte: Was hast du zu verlieren? Das stimmte, ich hatte nur mein Leben zu verlieren." Die Usbekin beschreibt das Gefühlschaos aus körperlicher Erschöpfung und psychischem Druck, man könnte sie in der Touristengruppe als Asylwerber entlarven und sofort abschieben.
Traiskirchen: Metallbett und Sessel
"Irgendwie haben wir es dann nach Traiskirchen geschafft. Als ich das Wort \'Lager\' hörte, war ich wie erstarrt. Ein Lager in Russland ist nicht das gleiche Lager, das man in Österreich kennt. Ich habe dann versucht, den Beamten meinen gesundheitlichen Zustand zu erklären, aber niemand hat reagiert", erinnert sich Xenia an das Aufnahmegespräch. Das Ehepaar wird aufgenommen, bekommt ein 10-Quadratmeter-Zimmer. Darin befinden sich zwei Metallbetten und zwei Sessel. Für zwei Jahre wird es ihr Zuhause. Es folgen schließlich Untersuchungen. Ein Arzt in Tribuswinkel traut seinen Augen nicht: "Der Schlauch, an den Sie die russischen Mediziner angeschlossen haben - das sind Behandlungsmethoden wie vor 100 Jahren in Österreich!" Ihrem besonderen medizinischen Fall hat es Xenia zu verdanken, dass sie zu einem Spezialisten der Urologie vermittelt wird. Er "bastelt" ihr eine neue Blase aus einem Teil des Darms und vollbringt damit für die Usbekin eine medizinische Höchstleistung. Seitdem muss sie mehrmals am Tag einen speziellen Katheter benutzen, der offenbar nur in Österreich zu bekommen ist: "Ich bin verbunden mit diesem Katheter", lacht sie. Aufgrund ihrer besonderen medizinischen Situation bekommt Xenia im Jahr 2008 die "graue Karte", die jährlich neu beantragt werden muss. Das bedeutet zwar einen negativen Asylbescheid, aber, dass subsidiärer Schutz gewährt wird. Die Beamten verlängerten - Jahr für Jahr.
Heute spricht Xenia Deutsch auf B1-Niveau, hat eine Umschulung zur Buchhalterin hinter sich und sucht wieder nach einer Anstellung. Ihr Eifer und "Integrationswille" ist auch der Asylbehörde nicht entgangen. "Möchten Sie in Freiheit leben?", fragt sie ein Beamter im November 2013 wie aus heiterem Himmel. Sie erhält eine Aufenthaltsbestätigung für fünf Jahre. "Ich habe nicht davon zu träumen gewagt und war richtig schockiert, weil ich für jeden Tag dankbar bin. Für mich ist schon ein Jahr wie 100 Jahre." Mit Tränen in den Augen erzählt sie, dass sie momentan auf ihren Reisepass wartet.
"Ich teile mein Leben in drei Abschnitte: Usbekistan, Russland und Österreich", sagt Xenia rückblickend: "In Wien komme ich langsam wieder zu mir: Es ist eine Art Seelentherapie. Manchmal bin ich aber müde. Ich hatte ein interessantes Leben mit Höhe- und Tiefpunkten, und ich denke, es ist genug. Aber wenn ich im Rollstuhl die Straße hinunterfahre, merke ich plötzlich nach zehn Minuten, dass ich lächle."