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Der Eindruck, dass ein Großteil der Austrotürken demokratiefeindlich sei, ist schlicht falsch, sagen Soziologen.
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Wien. "Keine Ahnung, was in der Türkei so läuft, aber schön die Diktatur wählen." Die junge Deutschtürkin, die in Istanbul lebt, macht ihrem Ärger auf Facebook Luft. Die Demokratie und die Freiheit in Deutschland zu genießen und gleichzeitig beim türkischen Verfassungsreferendum mit "Ja" zu stimmen, ist für sie einfach nur "dumm".
Tatsächlich ist der Anteil der "Ja"-Stimmen beim Verfassungsreferendum unter den Auslandstürken in westlichen Demokratien wie Belgien, Deutschland und Österreich besonders hoch. Während insgesamt 51,4 Prozent der Wahlberechtigten für die Verfassungsänderung, die die Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan noch weiter ausdehnt, stimmten, waren es unter den Stimmberechtigten Auslandstürken in Belgien gar 75 Prozent. In den Niederlanden stimmten 71 Prozent mit "Ja", in Deutschland 63 Prozent und in Österreich mehr als 73 Prozent. Für den deutschen Grünen-Chef Cem Özdemir war der Grund schnell gefunden. Das Ergebnis zeige "in einem Brennglas" die Versäumnisse der Integrationspolitik, sagte er. "Künftig muss stärker darauf bestanden werden, dass auf Dauer in Deutschland Lebende nicht nur mit den Zehenspitzen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, sondern mit beiden Füßen."
Für den österreichischen Soziologen Kenan Güngör greift diese Analyse zu kurz. Zunächst einmal sei es wichtig, sich die Zahlen genau anzuschauen, meint er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Denn aus dem Wahlergebnis abzuleiten, dass fast drei Viertel der in Österreich lebenden Türkischstämmigen für die Diktatur gestimmt hätten, sei schlicht falsch. Von den insgesamt rund 2,9 Millionen wahlberechtigten Auslandstürken weltweit entfielen 108.561 auf Österreich, von denen rund die Hälfte an den Konsulaten in Wien, Bregenz und Salzburg wählen ging. Das sind aber nicht alle in Österreich lebenden Türkischstämmigen, sondern nur die türkischen Staatsbürger. Güngör geht davon aus, dass man, würde man die Doppelstaatsbürger in die Rechnung einbeziehen, auf 150.000 bis 200.000 Wahlberechtigte käme. Dann würde die Wahlbeteiligung auf 30 oder 40 Prozent sinken. Eine ähnliche Rechnung müsste man für Deutschland anstellen, wo Doppelstaatsbürgerschaften ebenfalls nicht erlaubt sind.
Misstrauen gegen Konsulate
Die niedrige Wahlbeteiligung führt der Soziologe einerseits darauf zurück, dass für viele Austrotürken die Wahl eben nicht von so großer Bedeutung gewesen sei, wie es teils dargestellt wurde. Andererseits "ist ein Teil möglicherweise deswegen nicht zur Wahl gegangen, weil diese Menschen nicht sicher sein konnten, dass ihre Stimme auch gezählt werden würde". Das trifft laut Güngör vor allem auf das "Nein"-Lager zu, in dem die Konsulate nicht mehr als neutrale Orte wahrgenommen werden würden, sondern als vereinnahmt von der AKP-Regierung.
Auch abgesehen von der Frage nach der Wahlbeteiligung teilt Güngör Özdemirs Befund nicht. Er glaubt nicht, dass nach Westeuropa ausgewanderte Türken grundsätzliche Probleme mit der Demokratie haben. Jene, die mit "Ja" gestimmt haben, hätten sich "nicht intensiv mit den Inhalten auseinandergesetzt, das war in erster Linie eine Loyalitätsbekundung an Erdogan als charismatischen Führer", sagt Güngör. Hätte Erdogan eine Demokratisierungskampagne gestartet, hätte man eben dafür gestimmt. "Deswegen ist die Ableitung, dass die Menschen alle Antidemokraten wären, nicht haltbar", sagt der Soziologe. Dennoch: Aus Sympathie für Erdogan nehme man billigend antidemokratische Strukturen in Kauf - "das ist schlimm genug".
Und hier kommt tatsächlich wieder die Frage nach der Integration ins Spiel. Denn die Türken im Ausland fühlen sich oft benachteiligt, wie die Soziologin Petra Aigner von der Linzer Kepler-Uni bestätigt: Vor allem die zweite Generation der Austrotürken leide unter "hybriden Identitäten" - weder hier noch dort fühle man sich zu Hause.
Hybride Identitäten
Unter anderem liege das daran, dass vor allem die türkische Community mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen habe "und auch sehr selten ein sozialer Aufstieg durch Bildung gelingt", so Aigner. Ein anderer wunder Punkt ist laut Güngör das Staatsbürgerschaftsrecht, das auch nach zahlreichen Reformversuchen immer noch ein striktes Jus Sanguinis ist: In Österreich geborene Kinder erhalten automatisch die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern. "Damit sagen wir Menschen in der zweiten und dritten Generation immer noch: ‚Ihr gehört nicht dazu und wir wollen euch nicht‘." Durch dieses subjektive Gefühl, abgelehnt zu werden, kommt es laut Aigner zu vermehrten nationalistischen Tendenzen in Richtung Ursprungsland. Jemand wie Erdogan, der es schafft, ein "Wir"-Gefühl unter den Auslandstürken zu erzeugen, hat da natürlich ein leichtes Spiel.
Güngör plädiert für eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und eine bessere politische Kommunikation, die ein Zusammengehörigkeitsgefühl in Österreich vermittelt. Ein Nebeneffekt: "Menschen sind ansprechbarer für Kritik, wenn sie das Gefühl haben, akzeptiert zu werden."
Verwandtschaft verbindet
Dennoch: Mit der Integration alleine lässt sich das Wahlergebnis nicht erklären. In der Schweiz zum Beispiel stimmten nur 38 Prozent der Türken für die Einführung des Präsidialsystems, in Großbritannien waren es 20 Prozent. Die Soziologen erklären das mit dem Phänomen der Kettenmigration. Haben sich in einer Gegend Menschen aus einem bestimmten Gebiet angesiedelt, ziehen diese Personen aus ihrer Heimat an. In der Schweiz, vor allem in Basel, haben sich in erster Linie geflüchtete alevitische Kurden angesiedelt - Erdogan-Gegner. In England leben eher höher Gebildete, die ebenfalls wenig für die AKP übrighaben. In Deutschland und Österreich allerdings gibt es, so Güngör, "eine stärkere Zuwanderung aus Zentralanatolien, der Hochburg der AKP".
Aigner spricht von "transnationalen Linkages", also Verbindungen zu Verwandten in der Türkei. "Diese Netzwerke können ausschlaggebend für die Wahlentscheidung der Austrotürken sein." Das sieht auch die erwähnte Deutschtürkin als Grund für viele "Ja"-Entscheidungen. Als Gastarbeiter seien oft Atatürk-Gegner ausgewandert - sie hätten diese Denkweise nach Deutschland transportiert, wo sie bis heute fortlebe. Vor allem die "Verhüllten" seien Pro-Erdogan. Lakonischer Nachsatz: "Das war es dann mit Urlaub 2019 in Antalya im Bikini." Die junge Frau muss mit dem Ergebnis des Referendums leben. Sollte Erdogan die Frauenrechte beschneiden, wird sie der Türkei den Rücken kehren.