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Nicolas Sarkozy will in Frankreich das Gesetz der Straße brechen

Von Alexander U. Mathé

Analysen

Die Straße gewinnt immer. In der französischen Politik ist das eine Gewissheit. Jedesmal, wenn eine Regierung in Paris versucht hat, Einschnitte im Sozialstaat vorzunehmen, haben wütende Demonstrationen das Vorhaben gekippt.


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Mai 1995: Der frisch ernannte Premierminister Alain Juppé kündigt tiefe Eingriffe in das Sozialsystem an, darunter eine Pensionsreform. Wilde Proteste und Streiks legen daraufhin Frankreich lahm. Der Druck wächst stetig, bis schließlich Juppé im Dezember die Pensionsreform aufgibt. Von der Niederlage erholt er sich nicht mehr. Anfang 1997 löst Präsident Jacques Chirac das Parlament auf, bei den folgenden Wahlen wird Juppé abgewählt.

Februar 2006: Premierminister Dominique de Villepin setzt im Eilverfahren eine Arbeitsrechtreform durch. Millionen Menschen demonstrieren daraufhin in Frankreich. Nach Wochen des politischen Drucks erklärt Präsident Chirac, dass das Gesetz nicht angewendet werde, im April schafft de Villepin es wieder ab. Ein Jahr später tritt er von seinem Amt zurück.

Sommer 2010: Die Abstimmung über die französische Rentenreform rückt näher. Gewerkschaften und Opposition protestieren. Der verantwortliche Minister, Eric Woerth, wird in einen Strudel von Korruptionsvorwürfen gezogen. Laut Gewerkschaft waren am Protesttag letzte Woche 2,7 Millionen Menschen auf Frankreichs Straßen, laut Polizei immerhin 1,3. Doch diesmal ist etwas anders. Denn Woerth ist noch immer da und mit ihm das Reformvorhaben. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat sich Sarkozy hinter seinen Minister gestellt. So wie es aussieht, will es Sarkozy darauf ankommen lassen und sein Prestigeprojekt durchsetzen - der Protesttradition, die bereits seit dem Sturm auf die Bastille erfolgreich ist, zum Trotz.

Sarkozy ist sich sicher bewusst, was er da für ein Wagnis eingeht. Denn nicht nur muss er die politische Verantwortung für die Pensionsreform tragen, er läuft auch Gefahr, die in Frankreich zwar traditionell starke, aber zersplitterte Linke gegen den gemeinsamen Feind zu konsolidieren.

Allein, Sarkozy dürfte keine andere Wahl haben. Denn bei den derzeitigen wirtschaftlichen Aussichten kann sich Frankreich offenbar nicht mehr den Luxus leisten, mit 60 Jahren das niedrigste Pensionsantrittsalter in Europa zu haben. Die Staatsverschuldung hat mit mehr als 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes einen Rekordstand erreicht. Das Budgetdefizit wird wohl auf acht Prozent der Wirtschaftsleistung steigen.

Nachdem die Nationalversammlung in Paris die Pensionsreform am Mittwoch durchgewunken hat, haben sich gerade einmal ein paar tausend Demonstranten gefunden. Doch das dürfte nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen sein. Erst nach dem Unwetter wird man sehen, ob Sarkozy tatsächlich die Kraftprobe bestanden hat.

Siehe auch:Paris nimmt erste Hürde für Pensionsreform