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Corona führt zu einer Vervielfachung von Schulabmeldungen. Die Motive dürften unterschiedlich sein.
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Am Beginn der türkis-grünen Bundesregierung, Anfang 2020, standen 326 Seiten. Nie davor hatte eine Regierung ein so umfassendes Programm vorgelegt, entsprechend lange dauerte die mediale Aufarbeitung zu dem, was die Koalition plante - und was nicht. Bis tief in den Februar hinein. Auch Teile dieses Textes entstanden damals. Es ging einerseits um geplante Reformen für Privatschulen, andererseits um eine Leerstelle des Regierungsprogramms: den häuslichen Unterricht. Der Artikel erschien nie. Am 25. Februar tauchte das Coronavirus erstmals in Österreich auf und verdrängte alles andere von den Zeitungsseiten. Keine drei Wochen später wurden alle Schulen geschlossen und sämtliche Schülerinnen und Schüler in den häuslichen Unterricht geschickt. Er hieß dann nur auf einmal Homeschooling.
Im anstehenden Wintersemester soll es keine großflächigen Schulschließungen mehr geben. Es ist das erklärte Ziel von Bildungsminister Heinz Faßmann, der am Mittwoch sein Sicherheitskonzept für die Schulen präsentierte. Gleichzeitig kristallisierte sich aber in dieser Woche heraus, dass es ungewöhnlich viele Abmeldungen vom Schulunterricht gibt. Die Bildungsdirektionen der Bundesländer meldeten fast 3.400 solcher Abmeldungen, bis Ende August könnten es an die 6.000 sein, wird vermutet.
Es ist zwar noch kein Massenphänomen bei mehr als einer Million Schülerinnen und Schüler in Österreich, aber die Zunahme ist sehr außergewöhnlich. Seit 2010 wurden jedes Jahr etwa 2.000 Kinder häuslich unterrichtet, mal etwas mehr, mal etwas weniger. Wobei die Tendenz auch vor der Corona-Pandemie leicht steigend war. Werden es nun tatsächlich 6.000 Abmeldungen aus Schulen, wäre das aber eine Verdreifachung des langjährigen Werts.
Der Tod eines Kindes rüttelte die Politik auf
Warum die Eltern ihre Kinder häuslich unterrichten wollen, weiß das Ministerium und wissen auch die Bildungsdirektionen der Länder nicht. Eine Abmeldung bedarf in Österreich keiner Begründung. Ist es die Sorge vor einer Infektion in der Klasse? Oder die Ablehnung von Tests und gelegentlicher Maskenpflicht? Die Behörden können nur spekulieren. "Es wird sowohl als auch sein", sagt Herwig Kerschbaumer von der Bildungsdirektion Oberösterreich. "Manche Eltern fürchten sich auch vor einer Impfpflicht", sagt er. Eine Abmeldung von der Schule ist nämlich nur vor Beginn des Schuljahres möglich.
Schon der über Jahre leichte Anstieg der Zahl der häuslich unterrichteten Kinder hatte - wohlgemerkt vor Corona - die Politik beschäftigt. Es war auch der Grund, weshalb im März in dieser Zeitung ein Artikel dazu erscheinen sollte. Denn kurz vor der Nationalratswahl 2019 war ein 13-jähriges Kind an einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung gestorben. Der Fall sorgte für Schlagzeilen. Die Eltern hatten aus religiösen Gründen eine ärztliche Behandlung abgelehnt, die Erkrankung fiel aber niemandem außerhalb der Familie auf, denn das Kind wurde daheim unterrichtet. Es hatte nie eine Schule oder einen Kindergarten besucht, ebenso die Geschwister.
Lerngruppen sind nicht erlaubt
Das Recht auf häuslichen Unterricht ist in Österreich verfassungsrechtlich abgesichert, im Gegensatz zu Deutschland gibt es keine Schul-, nur eine Unterrichtspflicht. Für eine Gesetzesänderung bräuchte es daher eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat. Und nach dem tragischen Tod des Mädchens meldeten auch alle Parteien gesetzlichen Änderungsbedarf an. Die SPÖ forderte damals ein (weitgehendes) Ende des häuslichen Unterrichts.
Im türkis-grünen Regierungsprogramm fand sich dazu dann nichts mehr, und das Thema war auch nicht Teil der Verhandlungen. Aus dem Bildungsministerium hieß es aber damals, im Februar 2020, dass man sich wohl der Notwendigkeit einer Änderung bewusst sei und es hausintern Überlegungen dazu gebe. Dann kam Corona.
Das Thema ist aber, wie so oft, komplex. Etwa ein Viertel jener Schülerinnen und Schüler, die offiziell daheim unterrichtet werden, geht nämlich sehr wohl in eine Schule. Allerdings in eine Privatschule, die (noch) kein Öffentlichkeitsrecht erhalten hat. Auch das fällt dann in die Kategorie Heimunterricht. Das Öffentlichkeitsrecht kann bei neueren Privatschulen gerade in Prüfung sein. Manchmal fehlt auch eine der verlangten Qualitätsanforderungen. Wobei es auch nur räumliche Mankos sein können, die dem Verleih des Öffentlichkeitsrechts entgegenstehen. Türkis-Grün wollte laut Regierungsprogramm die Kriterien für Privatschulen etwas strenger ziehen.
Zum Teil wird nämlich auch versucht, das Privatschulgesetz in Österreich gezielt zu umgehen, in dem etwa Lerngruppen gebildet werden, obwohl das eigentlich verboten ist. "Das wissen die wenigsten Eltern", sagt Kerschbaumer. Ihm sei bereits zu Ohren gekommen, dass in Oberösterreich entsprechende Vereine gegründet und Lerngruppen eingerichtet wurden. Der Gesetzgeber sagt aber: entweder Schule oder Unterricht wirklich daheim. Man werde die Vereine anschreiben, dass sie unter das Privatschulgesetz fallen, sagt Kerschbaumer. In der Realität ist die Kontrolle aber schwierig. Und in diese Lücke stießen auch schon vor Corona rechts-esoterische Gruppierungen und auch Staatsverweigerer.
In Deutschland ist häuslicher Unterricht untersagt
Die Bandbreite ist groß, die staatliche Kontrolle aber eben nur bedingt vorhanden, oftmals nur in Form der verpflichtenden Externistenprüfungen, die bei häuslichem Unterricht vorgesehen sind. Schafft diese ein Kind nicht, darf es im folgenden Jahr nicht mehr daheim unterrichtet werden. Doch an einem konkreten Tag lässt sich der gesamte Lernfortschritt nur schwer messen, Wertehaltungen und soziale Kompetenzen gar nicht. Minister Faßmann strich am Mittwoch auch die Bedeutung der Schule als sozialen Ort hervor. Sie sei "ein Laboratorium für eine pluralistische Gesellschaft".
In Deutschland und etlichen anderen EU-Staaten ist der häusliche Unterricht verboten oder unterliegt sehr strengen Regeln. Das ist der Grund, warum es seit Jahren aus Deutschland einen Zuzug von Eltern gibt, die ihre Kinder unbedingt häuslich unterrichten wollen. Auch die sehr religiösen Eltern des gestorbenen Mädchens sind deutsche Staatsbürger und dürften sich nur aufgrund des häuslichen Unterrichts in Österreich niedergelassen haben. Im Innviertel registriert man auch in diesem Sommer eine Zunahme von Meldungen aus Deutschland, die ihr Kind für den häuslichen Unterricht anmelden.
Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen berichtete im ORF von vermehrten Anfragen von besorgten Angehörigen. Zumindest ein Teil der Abmeldungen dürfte staatsfeindlich motiviert sein sowie aus dem Umfeld von Verschwörungstheoretikern kommen, erklärte Schiesser. In den vergangenen Monaten habe sich das Narrativ der Verschwörungstheorien verstärkt um Kinder gedreht. "Die Hauptstoßrichtung war, dass Kinder gefährdet sind." Die Abmeldung von der Schule wird so zum Akt des Schutzes.
Keine Änderung des Gesetzes in Sicht
Ein Dorado für Staatsverweigerer, religiöse Fundamentalisten und linke wie rechte Aussteiger, die ihre Kinder nicht "dem Staat" anvertrauen wollen, will Österreich nicht werden. Auch das war vor mehr als einem Jahr ein Grund für die Überlegungen auf politischer Ebene, das Verfassungsrecht auf Heimunterricht neu zu denken.
Obwohl nun die Zahl der Kinder im häuslichen Unterricht so hoch sein dürfte wie nie zuvor; und obwohl vor der Corona-Pandemie eine große Mehrheit im Nationalrat der Ansicht war, dass die gesetzlichen Regelungen angepasst werden müssen, wird es jetzt keine Änderung geben. Das Fenster der Möglichkeiten hat sich geschlossen.
Im Ministerium wird nur darauf verwiesen, dass Faßmann die hohe Bedeutung der Schulen betonte. Auch für den grünen Koalitionspartner wäre jetzt der falsche Zeitpunkt, auf Zwang zu setzen, wie Bildungssprecherin Sibylle Hamann erklärt. Sie fordert eine "Outreach-Strategie", also ein Zugehen auf Eltern, die ihre Kinder aus der Schule nehmen. "Ich fordere das schon lange. Man muss jene, die sich abkapseln, wieder in den Diskurs zurückholen" erklärt Hamann.
Es ist auch das, was Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen den Anrufern empfiehlt: "Möglichst in Kontakt bleiben." Der niederösterreichische Bildungsdirektor, Johann Heuras, schlug ein verpflichtendes Elterngespräch bei einer Abmeldung vor. Das gibt es jetzt nicht. Ein Brief reicht, der nächste Kontakt mit Kind und Eltern erfolgt dann erst bei der Externistenprüfung. Am Ende des Schuljahres.