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"Nie wieder Tsipras!" - oder doch?

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Politik

In Griechenland wird am Sonntag gewählt. Ein offens Rennen.


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Kalamata/Athen. Es weht ein laues Lüftchen in Kalamata über die "Kentriki Plateia", den Zentralplatz. Jason und sein Freund Nikos, beide 18 Jahre alt, warten in der versammelten Menschenmenge auf den prominenten Redner. Der Star des Abends wird sich in diesem Express-Wahlkampf in Griechenland auch hier, in der 150.000 Einwohner zählenden Küstenstadt im Süden des Peloponnes, gleich ein Stelldichein geben.

Jason und Nikos haben Zeit für ein spontanes Gespräch. Kein Wunder. Denn Alexis Tsipras, der Chef vom "Bündnis der Radikalen Linken" ("Syriza"), lässt sie auf dieser Wahlkundgebung ziemlich lange warten. Fast 90 Minuten werden es sein. Dennoch: Kein Murren, kein Maulen ist im Publikum zu vernehmen. Im Gegenteil.

Bei der letzten Parlamentswahl im Jänner hatten Jason und Nikos ihre Stimme noch nicht abgeben dürfen, wohl aber am 5. Juli beim ominösen Volksentscheid über die Spar- und Reformvorschläge der öffentlichen Gläubiger Griechenlands. "Wir haben mit Ochi gestimmt", erzählen die beiden jungen Männer sichtlich stolz.

"Ochi", das heißt "Nein", wie man mittlerweile auch fernab von Hellas weiß. So votierten damals fast 62 Prozent der Griechen. "Jetzt dürfen wir auch bei den Parlamentswahlen erstmals unsere Stimme abgeben", frohlockt Jungwähler Jason. Für wen? "Für Alexis Tsipras, für Syriza. Er ist der Sauberste von allen Politikern." Nikos nickt.

"Er ist die einzige Hoffnung"

Auch in Komotini, 800 Kilometer weiter nördlich, sieht das ein anderer Syriza-Anhänger ähnlich. Er steht vor dem lokalen Syriza-Parteibüro in einer Seitengasse in der Innenstadt. Bald wird Tsipras auf seiner Wahlkampftour durch Hellas hier einen kurzen Halt machen. In der Amtszeit der Regierung Tsipras habe es durchaus "eine Menge Fehler und Versäumnisse" gegeben, räumt Leonidas Karatzas ein. Doch der 24-Jährige, der im achten Semester Management studiert, will gar nicht so sehr an Syriza glauben wie an Tsipras selbst. "Er ist und bleibt die einzige Hoffnung für Griechenland. Vor allem für die Mittelschicht und die armen Leute. Was ich auf keinen Fall will: dass die Konservativen wieder an die Macht kommen!"

Doch genau dieser Fall, den noch vor kurzem nur Fantasten zu Füßen der Akropolis für möglich hielten, könnte am kommenden Sonntag eintreten. Nur knapp sieben Monate nach seinem Wahltriumph im Jänner trat Tsipras zurück - in der Hoffnung, wiedergewählt zu werden. Gelingt das, könnte Tsipras ohne den Ballast einer innerparteilichen Opposition vier Jahre lang durchregieren. Angesichts der radikalen Kehrtwende hin zu einer Fortsetzung des rigorosen Austeritätskurses hatten die Tsipras-Gegner innerhalb der Syriza offen rebelliert. Im Parlament wurde konsequent gegen das dritte Kreditprogramm gestimmt, das die Regierung Tsipras nach einem mehrmonatigen Verhandlungsmarathon mit Hellas’ öffentlichen Gläubigern EU, EZB und IWF ausgehandelt hatte.

ND in einigen Umfragen voran

Wer aber glaubte, Tsipras würde die Wahlen am 20. September quasi im Spaziergang gewinnen, der sieht sich nun eines Besseren belehrt. Zwar lag Syriza in den ersten Meinungsumfragen im August mit bis zu vier Prozentpunkten vor der konservativen Oppositionspartei Nea Dimokratia (ND). Doch nun konstatiert das Gros der Meinungsforscher ein Kopf-an-Kopf-Rennen, einige Umfragen sehen die Altpartei ND plötzlich sogar vor Tsipras und Co. Stärkste Partei zu werden (auch mit nur einer Stimme Vorsprung) ist in Griechenland von enormer Bedeutung. Denn der Wahlsieger kassiert einen Bonus von 50 Mandaten - in der 300 Sitze umfassenden "Vouli", Athens ehrwürdigem Parlament, ist dies für die Regierungsbildung von entscheidender Bedeutung.

Für Kostas Kapralos, Mitte fünfzig, Dreitagebart, ist die Sache jedenfalls klar: "Nie wieder Tsipras!" Während der Schuldenkrise brachen die Umsätze seines Buch- und Schreibwarenladens auf der malerischen Insel Hydra, eine Fährstunde von Piräus gelegen, drastisch ein.

Kapralos wählte im Jänner erstmals Syriza - aus Frust, wie er sagt. "Die Regierung Tsipras hat der Wirtschaft einen enormen Schaden zugefügt, auch mir. Das passiert mir nicht noch einmal! Keine Experimente mehr!", poltert der Unternehmer nun. Und was wird er wählen? "Nea Dimokratia."

Die Demoskopen haben derzeit allerdings weniger die fest entschlossenen Wähler wie Kapralos im Auge. "Diese Wahlen werden von den Unentschlossenen sowie den Nichtwählern entschieden", erklärt Nikos Marantzidis, renommierter Wahlforscher von der Universität Makedonien gegenüber der "Wiener Zeitung". Insbesondere Syriza habe damit zu kämpfen, dass ein erheblicher Anteil ihrer Wähler vom Jänner diesmal unentschlossen sei oder sogar in Erwägung zöge, seine Stimme überhaupt nicht abzugeben - aus Protest gegen Tsipras’ Schwenk.

Demgegenüber habe es der neue und betont volksnahe ND-Chef Evangelos Meimarakis im Eiltempo geschafft, nicht nur die Stammwählerschaft zu mobilisieren, sondern auch frustrierte Syriza-Wähler vom Jänner zu gewinnen. "Die entscheidende Frage ist, ob Tsipras die Unentschlossenen oder potenziellen Nichtwähler, die offenbar mehrheitlich zu ihm tendieren, auf der Zielgeraden noch einmal mobilisieren kann", sagt Marantzidis. Die meisten griechischen Politbeobachter sind sich jedoch einig, dass das kein leichtes Unterfangen wird.

Große Koalition als Ausweg?

Eine absolute Mehrheit der Mandate in der "Vouli", Athens Parlament, wird jedenfalls keine der insgesamt antretenden 19 Parteien und Wahlbündnisse auf sich vereinen können. Denn die Zersplitterung des Parteiensystems wird wohl weiter zunehmen. Waren nach den Wahlen im Jänner schon sieben Parteien in der Vouli vertreten, könnten es diesmal sogar neun sein.

Dementsprechend halten viele die Bildung einer großen Koalition aus ND und Syriza für unausweichlich, um mit einer möglichst breiten Mehrheit der Abgeordneten die rigiden Spar- und Reformauflagen aus dem dritten Kreditprogramm für das chronisch pleitebedrohte Euro-Land überhaupt beschließen und umsetzen zu können.

Tsipras lehnt ein Zusammengehen mit der ND jedoch kategorisch ab. "Wir entledigen uns des Alten, wir gewinnen das Morgen" lautet diesmal der einprägsame Syriza-Wahlslogan. Nach Lesart der Syriza steht die ND für Korruption, Vetternwirtschaft und Klüngelei mit den hellenischen Oligarchen - und so eben "das Alte". Syriza hingegen sei die "neue Kraft" in Athen. Sie sei darauf bedacht, den Augiasstall auszumisten, wie es so schön in der griechischen Mythologie beschrieben werde.

Jenny Zaggas, 44, Betreiberin eines Reisebüros im bürgerlichen Athener Vorort Hellenikon, sieht das allerdings ein ein bisschen differenzierter. Im Juli, unmittelbar nach der folgenschweren Verhängung der Kapitalverkehrskontrollen durch die Regierung Tsipras, die damit einem Bankrun den Riegel vorschieben wollte, habe sie hier in ihrem kleinen Büro nur Däumchen drehen dürfen. Ausgerechnet im normalerweise einträglichen Urlaubsmonat Juli habe sich die einheimische Kundschaft einfach nicht mehr blicken lassen. "Das war ein Desaster", sagt Zaggas, die mittlerweile ein anderes, lukratives Geschäftsfeld entdeckt hat. Sie setzt ihre drei Busse dafür ein, die in diesen Tagen in Scharen ankommenden Flüchtlinge an die nördliche Landesgrenze zu fahren. "Die Fahrt dauert sechseinhalb Stunden. Wir transportieren täglich drei- bis vierhundert Flüchtlinge - für 50 Euro pro Ticket", sagt sie.

Im Jänner hat Zaggas die ehemals omnipotenten Pasok-Sozialisten gewählt. Doch diesmal will sie der Wahl fernbleiben. "Keiner hat meine Stimme verdient." Denken so viele in ihrer Umfeld? "Einige", sagt Zaggas. Aber viel mehr Angst mache ihr, dass diesmal viele die Faschisten von der Goldenen Morgenröte wählen wollen. "Vor allem von älteren Frauen höre ich das. Sie sind von den anderen Parteien total enttäuscht", sagt Zaggas.