Der Philosoph Friedrich Stadler über das Mängelwesen Mensch und die Rolle der Logik für die Digitalisierung.
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Wien. Der Prozess der Digitalisierung baut auf Erkenntnissen auf, die im frühen 20. Jahrhundert das Verständnis von Logik auf eine neue Ebene hoben. Der Wiener Philosoph Friedrich Stadler im Interview.
"Wiener Zeitung": Logik bedeutet "vernünftig schlussfolgern". Sie ist ein Mittel zum Zweck, um unsere Welt zu erfassen. In der Wissenschaft hat sich Logik nun so weit fortentwickelt, dass deren Erkenntnisse im Alltag kaum mehr verständlich sind. Also "versteht" heute nur eine kleine Elite, und der große Rest muss "glauben". Fast wie im Mittelalter, finden Sie nicht?
Friedrich Stadler: Es liegt auf der Hand, dass sich die Wissenschaften spezialisiert, ja überspezialisiert haben. Der Wissenszuwachs ist enorm, und diese Dynamik lässt sich kaum aufhalten. Das erzeugt den Eindruck, dass in unserer extrem arbeitsteiligen Welt die Wissenschaft Sache einer kleinen Elite ist. Und das führt uns zurück zum Ausgangspunkt der Aufklärung, bei der es darum ging, Wissen im Volk zu verbreiten und dessen Vorteile gegenüber Religion, Mythen und Aberglauben hervorzustreichen. Ob die Entwicklungen im Bereich der Logik hier eine besondere Rolle gespielt haben, kann man diskutieren. Seit der Antike ist sie ein Instrument, Wissen klarer zu machen, das Verständnis zu strukturieren und Schlussfolgerungen gültig zu konstruieren. Daran hat sich nichts geändert. Klar ist aber auch, dass Logik keine empirischen Wahrheiten produzieren kann.
Wissenschaft strebt nach einer einfachen Theorie. Mithilfe der Logik ist es gelungen, Information auf zwei Ziffern herunterzubrechen: 0 und 1. Das binäre Zahlensystem ist die Grundlage, auf der sich die Digitalisierung entwickeln konnte. Worin besteht für Sie der Durchbruch der Digitalisierung?
Die Digitalisierung hat die klassische Logik abgelöst. Sie hat das Denken neu gestaltet, es vereinfacht, gleichzeitig die Komplexität sichtbar gemacht und so die moderne Technologie der Computer ermöglicht. Das ist ein wesentlicher Durchbruch. Dass wir Denken auf das Wesentliche reduzieren können, ist eine entscheidende Weiterentwicklung des klassischen Denkens seit der Antike. Aber diese Geschichte ist nicht zu Ende, wir warten etwa auf die Entwicklung des Quantencomputers. Und gleichzeitig damit haben wir dank des vertriebenen Österreichers Kurt Gödel (1906-1978), dem wohl einflussreichsten Logiker des 20. Jahrhunderts, die Einsicht gewonnen, dass eine vollständige Rationalisierung und Automatisierung im Zusammenhang mit Wahrheit und Beweisbarkeit nicht möglich ist. Für den Menschen verbleibt also ein Bereich der Kreativität und Intuition jenseits dieser "Logisierung".
Wenn Sie sagen, "die Geschichte ist nicht zu Ende", schwingt für viele auch Unbehagen mit. Die Digitalisierung ist nicht einmal im Ansatz in unserem Alltag vollzogen, weder im Denken noch im Handeln. Erst langsam werden uns die Folgen klar. Hat wenigstens die Wissenschaft diese Entwicklung bis zum Ende durchgedacht?
Das ist nicht immer der Fall. Die Grenzen des Denkens sind prinzipiell offen. Wir wissen aus der Wissenschaftsgeschichte, dass die Folgen einer Entdeckung zum jeweiligen Zeitpunkt nicht immer absehbar sind. Erst Jahrzehnte später können Anwendungen zum Thema werden, das war etwa bei der Genetik der Fall. Die Frage, wer welches Wissen wann und wo einsetzt, ist eine gesellschaftliche. Hier kommen Politik und Zivilgesellschaft ins Spiel, und der Stellenwert von Wissenschaft und Forschung.
Die Wissenschaftsgeschichte lehrt aber auch, dass es noch nie funktioniert hat, Wissen zu tabuisieren. Was wir Menschen können, wenden wir auch an. Im Hinblick auf die Digitalisierung eröffnet das zum einen die enormen Chancen einer technologischen Revolution und gleichzeitig die Gefahr einer totalitären Steuerung und Kontrolle.
Ja, diese Ambivalenz ist eine Tatsache. Jede Gesellschaft muss für sich eine Balance finden zwischen Erforschung und Anwenden neuer Erkenntnisse. Wir kennen die Abgründe des 20. Jahrhunderts, die heutige Situation lässt sich als Abwägung beschreiben zwischen der Gewährleistung der individuellen Freiheit sowie dem Schutz der persönlichen Integrität auf der einen Seite und der Sicherung gesamtgesellschaftlicher Bedürfnisse andererseits. Das sind moralische und ethische Fragen, die die Politik entscheiden muss.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein, der maßgeblich zum neuen rationalen Denken beigetragen hat, ist aufgrund seiner Kriegserfahrungen wieder zur Religion zurückgekehrt. Sind Sie zuversichtlich, dass wir Menschen unsere technologischen Fähigkeiten in Zukunft besser kontrollieren können?
Dieses neue Denken war immer verbunden mit der Hoffnung auf die Vernunft und die Selbstbestimmung des Menschen. Gleichzeitig wissen wir, dass weder das Denken allein noch die Wissenschaft gegen autoritäre oder totalitäre Entwicklungen immunisieren. Wittgenstein war klar, dass sich das, worüber wir sprechen können, nur auf überprüfbare Erkenntnisse bezieht und dass das, worüber wir nicht sprechen können, das viel Wichtigere ist. Er war überzeugt, dass wir mit der Philosophie, auch wenn sie wissenschaftlich unterfüttert ist, die eigentlichen Probleme des Lebens noch nicht berührt haben. Das spiegelt sich in der von Hans Kelsen und auch dem Wiener Kreis vertretenen Überzeugung von der Zweiheit von Sein und Sollen. Die richtige wissenschaftliche Einstellung stellt sich hier so dar, dass es zwar Fakten und Tatsachen gibt, aus denen aber keine Werte und Normen abgeleitet werden können. Erst mit der Anerkennung des Dualismus von Tatsachen und Werten kann es gelingen, auf der Grundlage der Vernunft sich für eine eigene Haltung und Handlung rational zu entscheiden. Das ist ein sehr hoher Anspruch an unsere Natur, zumal wir Menschen uns in einem Zustand des Defizits und der Unsicherheit befinden. Es gibt niemanden in den Wissenschaften, der den Überblick hat. Es gibt niemanden, der behaupten kann, er kenne sein Fach vollständig in Geschichte, Theorie und Praxis.
Das bedeutet aber auch, dass sich Wissenschaft jeder Kontrolle entzieht, weil Normen und Tabus nicht durchgesetzt werden können.
Das sehe ich nicht so kritisch. Wenn es akzeptierte Normen und Regeln gibt und diese auch kommuniziert werden, dann ist das schon ein starkes Signal. Es geht hier eher darum, die Grenzen des eigenen Wissens zu kennen und zu akzeptieren, dadurch untergräbt man auch jeden Anspruch auf Allwissenheit und totalitäre Konzeptionen. Auf diese Weise schafft man Vertrauen in die Menschlichkeit von Wissenschaft.
Sie sprechen von Fakten und Tatsachen. Aber liegt nicht die Herausforderung der Digitalisierung darin, dass sie neue Wirklichkeiten zu schaffen vermag, die von der "wirklichen" Wirklichkeit kaum zu unterscheiden sind?
Ja, hier haben Sie recht. Das, was wir als Tatsache verstehen, unterliegt einem ständigen Veränderungsprozess. Dass wir für unsere Zeit auch von einem "postfaktischen Zeitalter" sprechen, zeigt ja an, dass es nicht mehr nur eine Realität gibt, die wir alle auf die gleiche Weise wahrnehmen und verstehen. Die Unterscheidung von natürlich und künstlich ist nicht mehr in der althergebrachten Form gegeben. Wir produzieren, reproduzieren und konstruieren virtuelle Wirklichkeiten. Mit der Digitalisierung wird deshalb unser Realitätsbegriff wesentlich erweitert und Teil unseres individuellen und gesellschaftlichen Denkens und Handelns.
Was bedeutet diese Entwicklung für unser Konzept von Wahrheit?
Der absolute Wahrheitsbegriff war immer Gegenstand philosophischer Kontroversen. Sicherheit, Wahrheit, Beweisbarkeit waren die höchsten Ansprüche an den Erkenntnisprozess und es hat sich gezeigt, dass das im Alltag nicht immer umsetzbar ist. Daher gab es ja diese Reaktion in der modernen Philosophie, zum Beispiel im Wiener Kreis: Dass die Erzeugung und Begründung von Erkenntnis nur in der Empirie liegen kann; dass uns die Logik dabei hilft, diesen Prozess zu strukturieren, aber dass sie keineswegs selbst diese Erkenntnis liefert; und dass wir es immer mit fehlbarem Wissen zu tun haben. Wenn wir diese zugegeben unbefriedigende Situation akzeptieren, dann wird das Wahrheitsproblem auf eine menschliche Dimension reduziert. Wenn wir aber weiter absolute Sicherheit haben wollen, dann wird es immer dazu kommen, dass sich robustes Wissen auflöst.
Letzte Frage: Haben Sie Vertrauen in das Verantwortungsbewusstsein der menschlichen Natur?
Ja, ich bin Optimist. Damit einher geht die Verpflichtung, die Erkenntnisse der Wissenschaften allen zugänglich und verständlich zu machen.