Zum Hauptinhalt springen

"Niemand hat die geringste Ahnung"

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Wann und wie geht es beim Brexit weiter? Theresa May kommt in Zugzwang.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

London. Am Sonntag ist es hundert Tage her, dass die Briten sich für den EU-Austritt entschieden haben. Aber noch immer ist völlig unklar, wie London das künftige Verhältnis Großbritanniens zu Europa sieht. Die neue Premierministerin und Tory-Parteichefin Theresa May gerät zunehmend unter Druck. Sie muss ihren Landsleuten ebenso wie dem Rest Europas erklären, welche Art von Brexit ihr vorschwebt. Auf dem konservativen Parteitag, der am Sonntag beginnt, wollen auch ihre Parteigänger Auskunft erhalten.

Bisher hat May sich mit einer Kursvorgabe zurückgehalten. Die Regierungschefin, die in den Wochen vor dem Referendum diskret für den Verbleib in der EU plädierte, hat seit ihrem Einzug in die Downing Street beteuert, "dass Brexit Brexit bedeutet" und dass sie diesen "zu einem Erfolg" machen wolle. Darüber hinaus hat May erklärt, dass Migration offenbar eine zentrale Frage für die Wähler gewesen sei, es also "eine gewisse" Beschränkung des Zuzugs von EU-Bürgern nach England geben müsse. Andererseits möchte May der Wirtschaft des Landes und insbesondere der City of London, dem britischen Finanzzentrum, weiteren Zugang zum Binnenmarkt der EU garantieren.

Pro-EU-Lager hofft nochimmer auf "Exit vom Brexit"

Einen "laufenden Kommentar" zu künftigen Verhandlungen mit der EU werde sie jedenfalls nicht liefern, fügte May hinzu. Mehrere ihrer Minister hat sie bereits zurückgepfiffen, als sie ihre eigenen Brexit-Interpretationen zu Protokoll gaben. So bezeichnete etwa Brexit-Minister David Davis es als "unwahrscheinlich", dass sein Land im EU-Binnenmarkt bleiben werde. Und Außenminister Boris Johnson drängt auf eine rasche Trennung von der EU. Der Minister für Internationalen Handel, der Parteirechte Liam Fox, hat sich zum "Bannerträger" für "freien und offenen Handel" erklärt. Bald, freute sich Fox, werde Großbritannien "ein unabhängiges Mitglied der Welthandelsorganisation außerhalb der EU" sein.

Mehr Klarheit fordert Mays Partei von der Regierungschefin selbst. "Bisher mangelt es an einem Plan seitens der Regierung", murrt die frühere Bildungsministerin Nicky Morgan. "Es besteht die Gefahr, dass die Regierung sich plötzlich in einer Situation findet, in der andere die Bedingungen diktieren." Ken Clarke, der Pro-EU-Veteran der Partei und frühere Schatzkanzler Margaret Thatchers, macht kein Geheimnis aus seiner Überzeugung: "Offenkundig hat niemand in der Regierung auch nur die geringste Ahnung, was an der Brexit-Front als Nächstes geschehen soll."

Auch das sonst eher zurückhaltende "Institut für Regierungsfragen" hat angesichts "eines enormen Vakuums in der Verhandlungsstrategie" Londons Alarm geschlagen. Entweder wüssten die Politiker nicht, was sie "mit dem Brexit anfangen" sollten. "Oder sie wissen es und sagen es nicht."

Die Frage, um die es geht, ist die nach einem "harten" oder "weichen" Brexit. Brexit-Wortführer, Ukip-Rechtspopulisten und national gestimmten Tories wollen den totalen Bruch mit der EU, um wieder "volle Kontrolle über unsere Grenzen" und "komplette Souveränität" zu erlangen.

Andere Konservative, darunter Mays Finanzminister Philip Hammond, plädieren nachdrücklich für einen Verbleib im Binnenmarkt oder zumindest in der Zollunion Europas. Auch die meisten Wirtschaftsunternehmen und Finanzhäuser drängen auf eine solche "weiche Landung", um kostspielige neue Zolltarife und womöglich eine Abwanderung der Großbanken aus der Londoner City zu vermeiden. Doch niemand weiß, wie ein Verbleib im EU-Binnenmarkt zu erreichen sein soll, wenn zugleich die Personenfreizügigkeit eingeschränkt wird. Alle bisherigen Äußerungen europäischer Politiker waren in diesem Punkt kompromisslos.

Zuletzt erklärte der italienische Premier Matteo Renzi: "Es wird ganz unmöglich sein, den Briten mehr Rechte einzuräumen als anderen Völkern, die sich außerhalb der EU befinden." Das Gleiche war aus Paris, Berlin und Brüssel zu hören. Dennoch hoffen viele Briten auf einen speziellen Deal.

Auch die Frage des Zeitpunkts, zu dem May Artikel 50 des Lissabonner Vertrags zur formellen Kündigung der britischen EU-Mitgliedschaft in Anspruch nehmen soll, ist bislang unbeantwortet geblieben. Außenminister Boris Johnson und mehrere europäische Gesprächspartner Mays wollen von der Regierungschefin gehört haben, dass der Brexit-Prozess zu Beginn des kommenden Jahres in Gang gesetzt werden soll. May selbst hat aber bisher abgestritten, dass es bereits einen festen Termin gibt. Es wird erwartet, dass sie auf dem Parteitag dazu Konkreteres sagt.

Unterdessen hoffen Brexit-Gegner noch immer, den Austritt aufhalten oder sogar stoppen zu können. In zwei Wochen findet eine gerichtliche Anhörung zu der Frage statt, ob May für die Kündigung der Mitgliedschaft letztlich die Zustimmung des Parlaments braucht - in dem es eine klare Mehrheit gegen den Brexit gibt.

Streit auch beiLabour-Party absehbar

Liberaldemokraten, Grüne und schottische Nationalisten fordern ohnehin eine Abstimmung im Parlament oder sogar ein erneutes Referendum nach Aushandlung der Austritts-Bedingungen mit der EU. Zu diesem Zeitpunkt, wenn ihnen die Konsequenzen eines Austritts klar sind, sollen die Briten auch noch einmal die Möglichkeit haben, den Brexit-Beschluss ganz zu kippen - und weiter EU-Mitglied zu bleiben, statt sich abzukoppeln.

Auch der Labour-Parteitag hat vergangenes Wochenende in einem wenig beachteten Beschluss ein entsprechendes Vorgehen empfohlen. Der Parteivorsitzende Jeremy Corbyn, der nie ein Freund der EU war, ist allerdings gegen jegliche Bremse oder gar Brexit-Kehrtwende. Corbyn drängte bereits kurz nach dem Referendum im Juni darauf, Artikel 50 möglichst schnell anzuwenden, um nicht mehr länger in der EU zu sein. Die Mehrheit seiner Abgeordneten ist aber pro-europäisch. Weiterer Brexit-Streit ist in den Labour-Reihen, ebenso wie bei den Konservativen, abzusehen.