Indiens Opfer von Säure-Angriffen werden nun offiziell als Behinderte anerkannt. Doch Kritiker wünschen sich eher eine Bekämpfung der Gewalt.
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Dubai/New Delhi. "Ich will nicht leben", sagt Vimla in ihrem Krankenhausbett. Die 46-jährige Inderin aus Rae Bareli im Bundesstaat Uttar Pradesh hat eine Massenvergewaltigung und fünf Säureattacken überlebt, doch nun ist sie am Ende. "Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich will Gerechtigkeit, aber es gibt keine Hoffnung mehr", sagt sie.
Vimlas Geschichte liest sich wie ein Horrorroman. Ende März wurde sie in einem Zug von einer Gruppe von Männern gezwungen, Säure zu trinken. Sie hat Verbrennungen am Mund, Kiefer und im Rachen und kann nur noch undeutlich sprechen, weil auch ihre Stimmbänder verätzt sind. Ihr Leidensweg begann 2008, als sie ein Stück Land, das ihr gehörte, nicht hergeben wollte. Eine Gruppe von Männern aus dem Dorf vergewaltigte sie aus Rache. Die Täter wurden festgenommen, doch rasch wieder auf freien Fuß gesetzt.
Vimlas Leid aber endete nicht. Um sie zum Schweigen zu bringen wurde sie 2011, zweimal 2012, 2013 und nun 2017 mit Säure angegriffen. "Mein ganzer Körper ist voller Brandwunden", erzählt sie. Vimla fand Arbeit in einem Café in Lucknow, das sich um die Überlebenden von Säure-Attentaten kümmert. Auf dem Heimweg von der Arbeit wurde sie Ende März erneut angegriffen und gezwungen, Säure zu trinken. "Ich habe geschrien, aber niemand hat mir geholfen."
Jedes Jahr werden hunderte Frauen in Indien Opfer eines solchen Verbrechens, weil sie sich sexuellen Avancen verweigern, Heiratsersuche ablehnen oder einfach in einen Nachbarschaftsstreit geraten sind. Die Überlebenden leiden unter Brandwunden, entstellten Gesichtern, Atemschwierigkeiten und Augenverletzungen bis hin zur Erblindung.
Im Jahr 2013 wurden in Indien Säure-Angriffe als ein eigenes Verbrechen in das Strafgesetzbuch aufgenommen, das mit mindestens zehn Jahren Gefängnis bis zu lebenslanger Haft bestraft wird.
Zahl der Angriffe steigt
Dennoch steigt die Zahl der Angriffe weiter. Auch andere Maßnahmen, wie die Einschränkung des Verkaufs von Säure, haben wenig Veränderung gebracht. Immer noch gibt es genug Substanzen auf dem Markt, wie Reinigungsmittel, die schwere Verätzungen hervorrufen. Laut der Statistik der indischen Regierung gab es 2015 249 Säure-Angriffe, doch Schätzungen zufolge liegt die Zahl deutlich höher, da viele Fälle gar nicht registriert werden.
Vilmas Fall erregte in Indien Aufsehen. Auch Arun Mishra, Richter am Obersten Gericht des Landes, meldete sich zu Wort und kritisierte, das zu wenig für die Opfer und zur Verhinderung von Säure-Attentaten getan werde: "Die meisten Opfer von Säure-Attacken sind Frauen. Sie leiden körperlich, psychisch und sie werden von der Gesellschaft ausgeschlossen. Das Oberste Gericht hat angeordnet, dass solchen Opfern der Behinderten-Status zukommen soll."
In den kommenden Tagen will das Parlament in New Delhi dies nun beschließen. Tausende Überlebende werden damit rein theoretisch das Recht auf eine Entschädigung haben, aber auch das Recht auf Vorzugsbehandlung, wenn sie sich um Studienplätze oder staatliche Stellen bewerben.
Doch nicht jeder ist damit glücklich: Aktivisten wie Colin Gonsalves beklagen, dass dieser Schritt nichts dazu tue, die Wurzeln der Gewalt zu bekämpfen. "Die Probleme von Säure-Opfern sind einzigartig. Sie brauchen mehrfache Operationen, manchmal mehr als zehn", sagt Gonsalves. Überlebende bräuchten nicht nur Pflege, sondern auch Schutz, weil sie auch nach einem Angriff oft nicht in Ruhe gelassen würden, sagt der Vorsitzende des "Human Rights Law Network" der britischen Zeitung "The Guardian". "Die Täter stellen ihren Opfern nach, um sie dazu zu zwingen, ein Verfahren gegen sie einzustellen", erklärt er. Vorbeugung sei besser als heilen, doch die Regierung haben mit dem neuen Gesetz eine halbherzige Lösung auf den Weg gebracht.
Die Regierung von Uttar Pradesh hat Vimla nun eine Kompensation angeboten. Sie und ihre Familie sollen zudem Polizeischutz bekommen. Auf Gerechtigkeit wird Vimla noch eine Weile warten müssen.