Ein Streifzug durch das Land der bittersüßen Paradoxa.
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In Rom, nicht weit von der Engelsburg entfernt, schreite ich furchtsam durch die Via di Panico und gewahre an einer Kreuzung eine Inschrift: Nihil desperandum - kein Grund zum Verzweifeln. Wohin soll ich mich wenden?
Ich stehe mit meinem perfekt verbeulten Wagen vor einer roten Ampel, es ist 23:30. Die Kreuzung vor mir ist menschenleer. Der Autofahrer hinter mir hupt mäßig elegant, ich deute genervt auf das rote Licht. Dann schert er aus, überquert souverän den Platz, während ich in der schwarzen Ödnis noch lange auf grünere Zeiten warte. Worüber soll ich mich mehr ärgern? Über die mediterrane Exegese der Straßenverkehrsordnung zur Nachtzeit oder über meinen teutonisch-legalistischen Herdentrieb?
Kapitalist, Kommunist und Katholik in Personalunion
Mein Freund Luciano lebt in der Nähe von Bologna. Er ist ein erfolgreicher Unternehmer, in seiner Freizeit spekuliert er an der Börse. In seinem Städtchen ist er als Gemeinderat und als Gewerkschaftler für die kommunistische Partei engagiert, er fordert eine Lohnerhöhung für die Arbeiterklasse. Am Sonntag geht er mit seiner Familie in die Kirche, jeden Sonntag. Mein Freund Luciano ist mithin Kapitalist, Kommunist und Katholik in Personalunion. Er schläft gut, er ist mit sich im Reinen.
Etwas außerhalb von Bologna liegt im Mittelgebirge das Örtchen Predappio, es ist der Geburtsort von Benito Mussolini. Die Hauptstraße ist von Souvenirläden gesäumt, man kann dort Mussolinibüsten, Mussolinischriften, Mussoliniwein, Mussolinikrawatten und trikolorefarbenes Mussolinibriefpapier erwerben. Der Bürgermeister von Predappio ist überzeugter Sozialdemokrat, sein Vater hat mit den Partisamen gekämpft. Mit der faschistoiden Geschäftemacherei in seiner Gemeinde hat er kein Problem: "Wir leben davon."
Mein Freund Carmelo ist Fischer auf Lampedusa, von den Migrationsströmungen hat er genug. "Sollen sie alle ersaufen, diese Idioten." Dann fährt er mit seinem Kutter hinaus in die Nacht. Als er im Morgengrauen wiederkommt, sitzen drei gerettete Syrer in seinem Boot, in Decken gehüllt, mit Kaffeebechern in der Hand.
Humanistische Prinzipienlosigkeit
Kennst Du das Land, wo die bittersüßen Paradoxa blühen? Es ist das Land der allzumenschlichen, der humanistischen und der humanitären Prinzipienlosigkeit, das rechtschaffene Mitteleuropäer in Verzweiflung oder Erstaunen versetzt. Es ist das Land, in dem ein wegen Bilanzfälschung angeklagter Medienzar Ministerpräsident wird und als solcher das Strafmaß für Bilanzfälschung herabsetzen lässt, um dann wiedergewählt zu werden.
Es ist das Land, in dessen Parlament binnen einer einzigen Legislaturperiode über 120 Parlamentarier die Partei wechseln. Es ist das Land mit dem größten und verkommensten Weltkulturerbe.
Italien ist ein Stiefel, in dem oben Bozen und unten Palermo Platz finden müssen, ein Stiefel, mit dem kaum ein Staat zu machen ist. Italien ist ein permanentes Provisorium, dessen prinzipielle Unverlässlichkeit die Italiener einfallsreich, wach und wendig macht.
Wer weiß, dass er sich ab 23 Uhr nicht mehr auf Ampeln verlassen kann, fährt nicht schlaftrunken ins Verderben. Die unsterbliche Lebenstauglichkeit der Italiener resultiert aus ihrer Katastrophenerfahrung.
Illusorische Italiensehnsüchte
Wohin soll ich mich wenden? An die schönfärberische Kultivation illusorischer Italiensehnsüchte eines Johann Wolfgang von Goethe, der freilich etwas geahnt haben muss, als er 1786 schrieb: "Rom ist eine Welt, und man braucht Jahre, um sich nur erst drinnen gewahr zu werden." Oder lässt sich Dantes Höllensentenz "Lasst alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr eintretet" mühelos in die postsäkulare Gegenwart übersetzen?
Am Lungotevere vor der Engelsburg tobt ein infernalischer Verkehr. Ich biege fluchtartig in die Via di Panico ein und lese noch einmal seelenruhig die Inschrift nach. Ich bin seit 50 Jahren Italiener – und stehe noch immer an der Kreuzung. Nihil desperandum.
Andreas Pfeifer wuchs in Bozen auf, lebte in Innsbruck, Washington und Rom, ist außenpolitischer Korrespondent für den ORF und schrieb mehrere Bücher, unter anderem eines über den Vatikan.
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