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Nikolaus Glattauer und Elisabeth Hager

Von Christine Dobretsberger

Reflexionen
Elisabeth Hager: "Ich würde mir wünschen, dass von Seiten der Eltern mehr Wertschätzung kommt." Foto: Robert Wimmer

Die beiden Pädagogen Nikolaus Glattauer und Elisabeth Hager berichten aus ihrem Schulalltag - und sprechen über Schwächen und Mängel des österreichischen Schulsystems.


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"Wiener Zeitung": Schenkt man der aktuellen, vor allem in den Medien geführten Lehrerdebatte Glauben, herrscht in den Klassenzimmern durchwegs Unzufriedenheit. Man fragt sich, welche Motive es noch gibt, Lehrer zu werden. Warum haben Sie diesen Beruf ergriffen? Niki Glattauer: Weil ich nicht mehr Journalist sein wollte. Ich hatte vom Boulevardjournalismus einfach genug. Und da kamen als Alternative nur Koch oder Lehrer in Betracht. Ich habe vor ziemlich genau 15 Jahren mein erstes Lehramtsstudium begonnen, damals war ich bereits 35.

Und was waren Ihre Beweggründe, Lehrerin zu werden? Elisabeth Hager: Ich hatte eine furchtbare Volksschulzeit und war mit meinen Lehrern immer sehr unglücklich. Ich habe den Lehrberuf gewählt, weil ich es anders, besser machen wollte. Und für mich war es die richtige Entscheidung, Volksschulkinder zu unterrichten, bzw. im Bereich Sonderpädagogik tätig zu sein. Ich arbeite gerne mit Kindern, die es im Leben überdurchschnittlich schwer haben.

Ich befinde mich also in der glücklichen, aber untypischen Situation, mit zwei zufriedenen Lehrern zu sprechen. Glattauer: Ich kann mir gut vorstellen, dass sich viele Kollegen am Studienbeginn gedacht haben, sie schlagen die Lehrerlaufbahn ein, weil dieser Beruf Sinn macht. Dass sich diese Meinung im Laufe der Jahre ändern kann, ist vor allem im Pflichtschulbereich gut verständlich. Es gibt dort einfach eine Menge Enttäuschungen.

Wie entstehen Enttäuschungen? Glattauer: Man wird auf den Lehrberuf falsch vorbereitet. Deckt sich das mit Ihrer Einschätzung?

Nikolaus Glattauer. Foto: Robert Wimmer

Hager: Absolut. Man lernt kaum praxisnahe Dinge, ist einfach nicht genug auf den Schulalltag vorbereitet, wenn man die Pädagogische Akademie verlässt. Vieles lernt man erst in der Praxis kennen. Vielleicht ist das aber nicht so schlecht, weil sonst viele schon in der Ausbildung resignieren würden.

Glattauer: Was meiner Ansicht nach aber gut wäre! Man merkt beim Studium sehr schnell, wer für diesen Beruf geeignet ist und wer nicht.

Von der Persönlichkeit her? Glattauer: Ja. Wie später im Schulsystem geht es auch bei der Ausbildung in erster Linie leider nicht um Eignung, sondern um Leistung. Das ist der Kardinalfehler. Prüfungen positiv zu absolvieren, heißt noch lange nicht, für diesen Beruf geeignet zu sein.

Wie lange dauert die pädagogische Ausbildung? Hager: Drei Jahre.

Glattauer: Das ist eindeutig zu kurz! Im europäischen Schnitt sind es vier Jahre, in Finnland sogar fünf.

Um bei Finnland zu bleiben: Was läuft in der Lehrerausbildung dort anders als hier? Glattauer: Vor allem ist jede Lehrerausbildung in Finnland akademisch. In Österreich kommen nur die AHS-Lehrer in den Genuss einer akademischen Ausbildung. Die Pflichtschullehrer erhalten dafür mehr pädagogische Schulung. Doch beiden fehlt etwas. Wollte man die beiden Lehrgänge miteinander verschränken, müsste man die Ausbildung verlängern. Meiner Meinung brauchen die Gymnasiallehrer verpflichtende Einheiten für Sonderpädagogik. In der realen Schulwelt ist man an allen Schulen und in allen Schulstufen mit schwierigen Schülern konfrontiert. Bei uns Pflichtschullehrern ist der Bereich Pädagogik zwar gut abgedeckt, dafür sind wir fächerspezifisch oft nicht top ausgebildet.

In welchen Fächern haben Sie die Lehramtsprüfung abgelegt? Glattauer: Für die Hauptschule in den Fächern Deutsch, Geografie und Religion. Danach habe ich noch das Lehramt für Sonderpädagogik gemacht, das heißt für Sonderschulen. Zurzeit bin ich als Integrationslehrer an einer Kooperativen Mittelschule tätig.

Hager: Gerade im Haupt- und Sonderschulbereich gibt es in der Ausbildung viel zu wenig Möglichkeiten, Praxis zu sammeln.

Glattauer: Sinnvoll wäre es, Berufseingangsphasen einzuführen, wo man den ganzen Tag lang einen Tutor an die Seite gestellt bekommt. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir ein viel größeres Angebot an Ganztagesschulen brauchen. Natürlich kann man den Lehrern und Lehrerinnen nicht zumuten, dass sie in Zukunft auch ihre Nachmittage mit Unterrichten verbringen - das hält man nervlich nicht durch. Warum holen wir nicht Studierende von den Unis und Hochschulen als Betreuer an die Schulen? Etwa für freizeitpädagogische Angebote, für Nachhilfe oder schlicht für die Aufsicht. Sie bekämen auf diese Weise Praxiserfahrung und könnten selbst feststellen, ob sie für diesen Beruf geeignet sind.

Haben Sie schon Verantwortliche der Bildungspolitik mit diesem Vorschlag konfrontiert? Glattauer: Da gibt es starre Fronten. Die einen halten Veränderungen in diese Richtung für richtig und wichtig - übrigens auch die beiden zuständigen Ministerinnen Schmied und Karl. Die anderen aber "mauern".

Einigkeit scheint sich jedoch allmählich beim Thema gemeinsame Mittelschule der 10- bis 14-Jährigen abzuzeichnen. Hager: Ich finde die gemeinsame Mittelschule gut, weil sie eine größere Chancengleichheit verspricht. Man bekommt nicht den Stempel aufgedrückt: Du warst nur in einer Hauptschule, ich am Gymnasium.

"Man wird auf den Lehrberuf falsch vorbereitet" - Nikolaus Glattauer und Elisabeth Hager im Gespräch mit der "Wiener Zeitung"- Mitarbeiterin Christine Dobretsberger. Foto: Robert Wimmer

Glattauer: Mit Ausnahme von Österreich und Deutschland hat sich dieses Schulmodell europaweit durchgesetzt. Ich halte es für einen entsetzlichen Fehler, dass wir immer noch im Versuchsstadium sind - noch dazu wird dieser Schulversuch unter falschen Voraussetzungen durchgeführt.

Inwiefern falsch? Glattauer: Indem Gymnasien und Hauptschulen weiterhin gleichzeitig existieren. So kann die gemeinsame Schule nicht funktionieren, weil keine soziale Durchmischung stattfindet. Ich bin dafür, diesen Schulversuch sofort zu beenden und flächendeckend die gemeinsame Schule einzuführen.

Aber das wäre auch eine Frage von adäquaten Räumlichkeiten. Die meisten Schulen sind nicht für eine Institution geschaffen, wo auch nachmittags unterrichtet wird bzw. Kinderbetreuung angeboten wird. Glattauer: Das stimmt weitgehend. Aber man darf nicht außer Acht lassen, dass viele Schüler es zu Hause nicht besser haben. Sie gehen nach der Schule auch gar nicht nach Hause, weil dort ohnehin niemand auf sie wartet, geschweige denn sich um sie kümmert. Auch diesbezüglich wären sie in der Schule besser aufgehoben als im Park. Aber ungeachtet dessen: Natürlich gehört eine neue Infrastruktur her. Ich bin der Meinung, dass es sinnvoller wäre, desolate Schulgebäude niederzureißen, statt sie regelmäßig zu sanieren, was enorm teuer ist.

Hager: In Wiener Neustadt etwa gibt es die "Waldschule", die allen modernen Kriterien und Anforderungen gerecht wird. Mit unterschiedlich großen Räumen, allesamt kindergerecht gestaltet und eingerichtet.

Glattauer: Ich habe eine Idee, wie das Raumproblem mittelfristig zu lösen wäre. Man könnte ein Schulhaus in seinem Zustand belassen, aber rundherum Wohnungen als Lernstudios anmieten und themenspezifisch einrichten. Das heißt: Die Klasse pendelt zwischen Haupthaus und Studios. Ortswechsel sind immer gut! Kinder, die stundenlang in der Klasse sitzen müssen, brauchen Tapetenwechsel. Das Ziel wäre es, mit der Schule eine normale Lebenssituation zu schaffen statt Kasernendrill - und im Hauptgebäude würde man Platz gewinnen.

Über Platznot wird in der Lehrerschaft besonders häufig geklagt. Glattauer: So ist es. Die Bedingungen sind haarsträubend. Lehrer haben im Normalfall nicht einmal einen eigenen Arbeitsbereich. Ein Kopierer, ein Telefon, zwei Computer für die gesamte Belegschaft. Das ist entwürdigend! Und auch der Grund, warum viele Kollegen nach Unterrichtsschluss fluchtartig das Haus verlassen.

Woran liegt es, dass der Lehrberuf in der öffentlichen Meinung so stark an Wertschätzung eingebüßt hat? Hager: Ich denke, das liegt in erster Linie an der sinkenden Wertschätzung von Seiten der Eltern. Früher gab es zu Hause Ärger, wenn die Kinder in der Schule nicht brav waren. Heute sind eher die Lehrer die "Bösen", und die Eltern ergreifen eher für ihre Kinder Partei.

Glattauer: Der Lehrer war früher reiner Wissensvermittler und kraft seines Amtes eine Autoritätsperson. Heute hat das Amt keine autoritäre Kraft mehr. Aber das halte ich für einen Fortschritt. Ich fände es schrecklich, würden Kinder in Ehrfurcht erstarren, wenn der Lehrer das Klassenzimmer betritt.

Hager: Ich möchte natürlich auch nicht, dass die Schüler vor den Lehrern Angst haben. Aber ich würde mir wünschen, dass von Seiten der Eltern mehr Wertschätzung kommt.

Glattauer: Eltern, die früher selbst autoritären Lehrern ausgesetzt waren, neigen dazu, die heutigen Lehrer ein wenig einzutunken - auch um ihre eigene Geschichte zu bewältigen. Gerade deshalb wäre es wichtig, dass der Lehrer wieder mehr zum Partner wird. Dann würde man als Lehrer von Schülern und Eltern nicht mehr als Feindbild betrachtet werden. In Belgien habe ich erlebt, dass die Zusammenarbeit von Eltern, Lehrern und Schülern viel freundschaftlicher ist.

Was müsste passieren, dass diese Entwicklung auch in Österreich in Gang kommt? Glattauer: Man müsste zum Beispiel sicherstellen, dass nicht derjenige, der die Schüler unterrichtet, auch die entscheidenden Klassifikationen durchführt; dass sich der Lehrer also eher als Partner, als Mentor des Schülers versteht: Man arbeitet gemeinsam auf ein Ziel hin. Dann wäre der Lehrer eher Verbündeter als Kontrolleur.

Welche Druckmittel hat man heute als Lehrer überhaupt noch, um sich Ruhe zu verschaffen? Hager: Ich glaube, Druckmittel ist das absolut falsche Wort. Es geht vielmehr darum, Verständnis für die Kinder aufzubringen.

Gut, das beantwortet meine Frage aber nur teilweise: Wie verschafft man sich konkret Aufmerksamkeit und Ruhe? Glattauer: Als Lehrer muss man authentisch sein. Wenn ein Schüler mehrmals hintereinander keine Hausübung bringt oder vier Stunden lang deppert ist, dann explodiere ich. Da reagiere ich emotional. Für ein Kind ist das Druckmittel genug. Meiner Erfahrung nach funktioniert alles auf der Beziehungsebene.

Hager: Ja, die Beziehungsebene ist das Allerwichtigste. Meine Volksschulkinder, die aus schwierigen Verhältnissen kommen und große Probleme haben, sich in eine Gruppe zu integrieren, sehen es mir schon an der Nasenspitze an, wenn ich enttäuscht bin.

Und das reicht, dass wieder Ruhe ist? Hager: Ja, das reicht.

Dann frage ich mich, weshalb seitens der Lehrerschaft so heftig darüber geklagt wird, dass es immer schwieriger wird, sich in der Klasse durchzusetzen. Glattauer: Bei den Kleinen reicht es wirklich, sie die eigene Enttäuschung spüren zu lassen. Bei den Größeren muss bisweilen nachjustiert werden. Wie gesagt: Ich explodiere regelmäßig. Und wenn es gar nicht mehr geht, müssen die Eltern her.

Hager: Schwieriges Verhalten eines Kindes hat immer Gründe. Wenn man herausfindet, wo der Haken liegt, dann ist der erste Schritt schon getan. Man muss dem Kind so viel Vertrauen schenken, dass man Vertrauen zurückbekommt.

Woran liegt es, dass heutzutage der Lehrberuf in der Mehrzahl von Frauen ausgeübt wird? Glattauer: Dass so wenige Männer diesen Beruf wählen, liegt erstens daran, dass er keine innerbetrieblichen Aufstiegschancen bietet, zweitens daran, dass Junglehrer unterbezahlt sind und drittens, dass der gesamte Berufstand ein katastrophales Image hat. Hingegen betrachten viele Frauen den Lehrberuf leider immer noch durch die Brille der werdenden Mutter und sehen ihr Gehalt als Zubrot zum Hauptverdienst des Mannes. Das ist in jeder Hinsicht ein falscher Ansatz. Es läge an der Politik, dafür zu sorgen, dass man im Lehrberuf nicht als Nebenerwerbslehrer verkommt. Wir brauchen die Ganztagsschule, dann verschwänden die falschen Vorstellungen vom Lehrberuf als Halbtagsjob.

Hager: Die Kinder sind sicher ein wichtiger Grund dafür, dass viele Frauen den Lehrberuf ergreifen - oder erst später einsteigen, wenn sie schon Mutter geworden sind.

Ist der Lehrberuf also heute ein Halbtagsjob oder nicht? Hager: Es hängt wirklich sehr davon ab, was der Lehrer aus seinem Beruf macht. Wer engagiert ist, sich bemüht und gut vorbereitet, kommt sehr wohl auf 38 bis 40 Arbeitsstunden pro Woche.

Glattauer: Derzeit verrichten viele Lehrer und Lehrerinnen die Hälfte ihrer Arbeit zu Hause. Ich bin aber der Meinung, dass wir in die Schule gehören - denn die Kinder brauchen uns.

Zur PersonNikolaus Glattauer, geboren 1959 in Zürich, 1977 Matura in Wien. Von 1978 bis 1995 Journalist bei mehreren österreichischen Zeitungen (u.a. "Presse", "Kurier" , "AZ", "News"). Von 1995 bis 1998 Lehramtsstudium für Hauptschule, 1999 Einstieg in den Lehrberuf an einer Informatikhauptschule in Wien. Von 2001 bis 2004 Lehramt für Sonderpädagogik (Sonderschule). Derzeit unterrichtet Glattauer in KMS 18, Schopenhauerstraße, als Integrationslehrer und Klassenvorstand. Er ist Autor von zwei Romanen ("Jakobus, Stiefsohn Gottes", "Im Vogelblick"), eines Kinderbuchs ("Schlaf gut, Susi! Schlaf gut, Schlaf!") und hat heuer das Buch "Der engagierte Lehrer und seine Feinde - zur Lage an Österreichs Schulen" im Verlag Ueberreuter veröffentlicht. Glattauer ist verheiratet, Vater eines achtjährigen Mädchens und eines zweijährigen Sohnes, sowie Kolumnist für das Magazin "Datum".

Elisabeth Hager, geboren 1981 in Baden, aufgewachsen in einem kleinen Vorort von Wien. Abschluss des Lehramtes für Volksschule im Jahr 2005. Viermonatiger Au Pair-Aufenthalt in Boston im Sommer 2005. Abschluss des Lehramtes für Sonderschule 2006. Lehrtätigkeit in einer Schule für Kinder mit Autismus in der Bronx, New York, von 2006 bis 2008. Regional Manager bei "EF Education" in Wien in der Abteilung Au Pair-Vermittlung von 2008 bis 2010. Seit 2010 Lehrtätigkeit bei einem Projekt für Kinder in Krisen, die besondere Betreuung benötigen. Derzeit in der Wirtschaftshauptschule in Berndorf (NÖ) tätig.

Christine Dobretsberger, geboren 1968, Journalistin und Autorin, seit 2005 Geschäftsführerin der Text- und Grafikagentur Linea-art. Kürzlich ist das von ihr herausgegebene Buch "Polizisten weinen nicht" im Molden Verlag erschienen.