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Nissan muss sich neu orientieren

Von Felix Lill

Wirtschaft

Die Anschuldigungen von Carlos Ghosn gegen Japan und Nissan wiegen schwer. In einer tiefen Krise steckt damit nicht nur der Ex-Manager, sondern auch sein ehemaliger Arbeitgeber Nissan.


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Nur zweimal pro Woche habe er sich duschen dürfen, Briefe an ihn zunächst nur durch ein Fenster lesen können. "Ich kam mir vor, als sei ich kein menschliches Wesen mehr", sagte der einstige Topmanager bei einer Pressekonferenz über die 130 Tage, die er insgesamt in Haft hatte verbringen müssen.

Die Anschuldigungen, die Carlos Ghosn nach seiner Flucht aus Japan von einem seiner Heimatländer Libanon aus machte, gehen mit der japanischen Justiz hart ins Gericht. Im ostasiatischen Land hätte der einstige CEO von Nissan und Renault niemals einen fairen Prozess bekommen, so sei die Flucht aus Japan, wenngleich er zuvor gegen eine Kaution von umgerechnet fast acht Millionen Euro freigelassen worden war, sein einziger Ausweg gewesen.

Doch Ghosn teilte nicht nur gegen das japanische Staatswesen aus. Er sei im November 2018 nur deshalb mit dem Verdacht auf Steuerhinterziehung und Veruntreuung in Höhe von 38,8 Millionen Euro festgenommen worden, weil es im Hause Nissan eine Verschwörung gegen ihn gegeben habe. Sein damaliger Arbeitgeber habe ihn loswerden wollen. Und der japanische Staat, dem dies nur recht gewesen sei, habe mitgemacht und die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.

In Japan wurde diese Kritik auf ganzer Linie zurückgewiesen. Das japanische Justizsystem wahre sehr wohl die Menschenrechte, beteuerte Justizministerin Masako Mori. Ghosns Darstellung sei einseitig, seine Flucht vor Japans Justiz, die der Brasilianer mit französischen und libanesischen Pässen über den Jahreswechsel auf spektakuläre Weise geschafft hatte, könne "nie vergeben werden." Per Interpol hat Japan einen internationalen Haftbefehl gegen Ghosn ausstellen lassen. Tokios Staatsanwaltschaft hat zudem einen Haftbefehl gegen seine Frau Carole erwirkt, der vorgeworfen wird, die japanische Justiz belogen zu haben.

"Mehrere Fälle von Fehlverhalten"

Auch aus dem Hause Nissan hat man in der Causa mit einer Gegenversion reagiert. Schon am Dienstag gab der Konzern zu verstehen, dass man die Flucht Ghosns nicht nur für "äußerst bedauerlich" halte, sondern dass er Ende 2018 zurecht verhaftet worden sei. Eine gründliche interne Untersuchung habe ergeben, dass Ghosn "mehrere Fälle von Fehlverhalten" vorzuwerfen seien, durch die er sich auf Kosten des Unternehmens habe privat bereichern wollen. Während Ghosn dies dementiert, berichtet Nissan von "unmissverständlicher Evidenz." Deshalb habe man ihn von der Position des CEO beseitigen müssen.

Ghosn behauptet, dass er in Japan schon zur persona non grata geworden sei, bevor man irgendwelche juristischen Vorwürfe erhob. Als Architekt der Autobauerallianz aus Renault und Nissan sowie ab 2016 auch mit Mitsubishi, wollte er die drei Konzerne enger verzahnen. Die Manager von Nissan fühlten sich durch den Plan benachteiligt. Denn der teilweise im französischen Staatsbesitz stehende Konzern Renault hält einen hohen Anteil an Nissan, während in den letzten Jahren Nissan Renault überholt hatte. Um die von Ghosn mithilfe der französischen Seite geplante Verschmelzung zu verhindern, habe man sich der Personalie Ghosn entledigen müssen.

Jenseits dieser Vorwürfe und Spekulationen fällt allerdings auch auf: Nissan ist nicht gerade gesundet, seit der Chef nicht mehr Carlos Ghosn heißt. Mit dessen Verhaftung im November 2018 ist der Aktienkurs an der Tokioter Börse um etwa 40 Prozent eingebrochen. Dies kann nicht nur damit zusammenhängen, dass 2018 auch noch die Autoverkäufe von Nissan um 2,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr sanken und im ersten Halbjahr 2019 die Gewinne einbrachen. Nicht zuletzt geht es um die Ungewissheit, was die Zukunft der Allianz zwischen Renault, Nissan und Mitsubishi betrifft.

Seit Jahren befindet sich die gesamte Autobranche in einer Umbruchphase, für deren Gelingen viel Erfindungsreichtum und Kapital nötig sind. Die Entwicklung neuer Motoren für das Fahren mit nachhaltigen Kraftstoffen sowie das Vorantreiben des Autonomen Fahrens und die Entwicklung des Carsharingtrends sind weltweite Phänomene. Nicht zuletzt, weil für Antworten hierauf personelle wie finanzielle Synergien behilflich sind, ergibt die strategische Partnerschaft zwischen den drei Autobauern Renault, Nissan und Mitsubishi zumindest geschäftlich Sinn. Allerdings stottern die Verhandlungen umso mehr, seit Ghosn nicht mehr als vereinender Chef über allem steht.

Letztes Jahr warf ein Direktor der Renault-Nissan-Allianz, Arnaud Deboeuf, das Handtuch. Die jeweiligen CEO-Nachfolger Ghosns bei Renault und Nissan verloren ihre Positionen nach rund einem Jahr im Amt. Die Hoffnungen auf eine Wiederbelebung der Partnerschaft, für die man bei Nissan eine neue Kräfteverteilung verlangt, ruhen nun auf einem Landsmann von Ghosn, dem Libanesen Hadi Zablit, der seit kurzem als Generalsekretär der Dreier-Allianz aus Renault, Nissan und Mitsubishi fungiert. Doch die Chefs der jeweils autonom agierenden Konzerne betonen: eine Fusion werde es nicht geben.

Ghosn hatte genau dies aber geplant. Und bis zu seiner Verhaftung sah einiges danach aus, als könnte ihm das Vorhaben, woraus der größte Autobauer der Welt entstanden wäre, gelingen. Als Ghosn im Jahr 2000 den damals maroden Konzern Nissan übernahm und diesen nicht zuletzt durch schmerzhafte Sparmaßnahmen binnen einiger Jahre zu Japans profitabelstem Autokonzern umkrempelte, genoss er in Japan den Status einer Art Popstar. Ab 2005 stieg er auch bei Renault zum unangefochtenen Chef auf. Im Zuge eines Betrugsskandals um Kraftstoffverbrauch bei Mitsubishi schluckte man diesen Konzern gleich mit, Ghosn wurde an die Spitze gehievt.

Im Nachgang der Verhaftung Ghosns leitete Nissan, wo man dann zu hohe Machtkonzentration auf die Person Ghosn festgestellt hatte, eine Managementreform ein, die unter anderem für mehr Gewaltenteilung sorgen sollte. Die Früchte hiervon sind bisher nicht auf das operative Geschäft abgefallen, was dem geschassten Carlos Ghosn Genugtuung bereiten könnte. Allerdings wirkte er bei seinem Auftritt am Mittwoch ganz anders. Eher wie einer, der das Ruder am liebsten noch einmal herumreißen würde.