Noam Chomsky, der weltberühmte Linguist und führende Linksintellektuelle Nordamerikas, erwartet von der Obama-Präsidentschaft keine wesentlichen Kursänderungen - und erklärt, warum die Propagandaindustrie in den USA so erfolgreich ist.
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Wiener Zeitung: Herr Chomsky, was denken Sie - als professioneller Kritiker der US-Politik - über Barack Obama? Noam Chomsky: Das, was ich schon dachte, bevor er gewählt wurde. Er kommt aus der gesellschaftlichen Elite und ist ein typischer Demokrat der politischen Mitte. Natürlich unterscheidet er sich von herkömmlichen Politikern durch den Umstand, dass er Afroamerikaner ist. Und er beeindruckt viele Leute - mich nicht - durch seine Persönlichkeit. Die Werbeindustrie hat das ganz richtig erkannt: Sie vergibt alljährlich einen Preis für die beste Marketingkampagne des Jahres, heuer an den Obama-Wahlkampf.
Und politisch?
Er drückt sich um die Themen herum, wie die meisten Politiker. Bereits im Wahlkampf hat es Obama glänzend geschafft, konkreten Antworten auszuweichen. Nehmen Sie beispielsweise die Gerüchte über seine Geldgeber. Damals hieß es, eine Unmenge von kleinen, privaten Spendern hätte Obama den Wahlkampf finanziert. In Wahrheit wurde er von der Finanzindustrie gesponsert, der Obama lieber war als McCain.
Warum?
Weil sie dachte, er werde ihre Bedürfnisse besser befriedigen. Und genau das ist ja auch passiert. Sehen Sie sich nur seine Berater an. Als ersten ernannte er Robert Rubin. Rubin war Finanzminister unter Clinton und trug dazu bei, jenes Gesetz zu eliminieren, welches Banken vor riskanten Investitionen schützte, sodass eine kommerzielle Bank etwa keine Versicherung übernehmen konnte. Als Rubin die Regierung verließ, wurde er Direktor der City Group, die in den darauffolgenden Jahren enorme Gewinne verbuchte, indem sie Versicherungen und Investmentfirmen aufkaufte.
Das heißt, Rubin nutzte jene Gesetze, die er zuvor selbst bewirkt hatte?
Ja, und verdiente einen Haufen Geld dabei! Als die City-Gruppe dann zusammenbrach, wurde sie mit Hilfe öffentlicher Gelder gerettet. Genau da liegt das Problem. Die großen Banken wissen, dass sie sehr riskante Geschäfte wagen können, weil sie im Fall des Falles von der Öffentlichkeit aufgefangen werden.
Was ist von Obama in den nächsten Jahren politisch zu erwarten?
Man schaue sich nur an, wer Obamas Wahlkampf finanziert hat, und man bekommt eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wohin sich seine Politik bewegt. Die Gelder für den Wahlkampf kamen großteils von Finanzinstitutionen und Anwaltskanzleien, das heißt von Business-Lobbyisten.
Halten Sie Obama also für eine Marionette?
Nein, er ist eine ganz normale politische Figur, die auf die Machtstrukturen in unserer Gesellschaft reagiert. Anders hätte er es gar nicht geschafft, überhaupt nominiert zu werden. Um nominiert und um gewählt zu werden, sind enorme Geldmittel und die richtigen Medienkooperationen nötig.
Ist Obama politisch überhaupt imstande, den viel propagierten "change" durchzuziehen?
Das weiß ich nicht . . . Immerhin hat er ein ausgezeichnetes Propagandanetzwerk. Und das funktioniert in Europa noch viel besser als in den Staaten. Ich habe einen Artikel in der europäischen Presse gelesen, in dem Obama für seine neue Haltung in der Nahostfrage gelobt wurde. Dabei hat er sich im Grunde ganz klar gegen einen eigenen Palästinenserstaat ausgesprochen und anklingen lassen, dass die USA weiterhin eine Zweistaatenlösung verhindern werden. Natürlich sprach er auch von den Arabern, die ihre Arme friedlich ausstrecken.
In Europa wurde das als großer Fortschritt gewürdigt. Aber die Araber strecken nicht ihre friedlich Arme aus, sondern ballen die Fäuste.
Gibt es überhaupt eine Lösung für den Palästina-Konflikt?
Es gibt eine ganz einfache Lösung. Seit 30 Jahren ist sich die Welt darüber einig - sogar die Hamas, Irak und Iran haben zugestimmt -, dass es zwei Staaten mit international festgelegten Grenzen geben soll. Nur die USA verhindern diese Lösung.
Warum?
Weil ihnen ein mächtiges Israel lieber ist. Israel ist ein reiches Land, das den USA viel zu bieten hat, die Palästinenser dagegen sind schwach, arm, verhasst - sogar in den arabischen Ländern - und verschuldet, die bringen den USA überhaupt nichts. Israel dagegen ist ein westlich orientiertes, einflussreiches Land und eine strategisch wichtige Militärbasis. Und Israel arbeitet in der Spionageabwehr, beim Geheimdienst und in der Waffenindustrie, dem größten Industriezweig Israels, eng mit den USA zusammen. Der einzige Wehrmutstropfen ist der Widerstand in der Bevölkerung der meisten arabischen Länder. Aber wen kümmert das schon, solange die verbündeten Diktatoren dort in der Lage sind, die Menschen unter Kontrolle zu halten.
Ist das nicht riskant?
Diese Strategie hat immerhin in den letzten 50 Jahren gut funktioniert. Bereits 1958, als Israel noch gar kein Thema war, warf Eisenhower die Frage auf, warum die arabische Bevölkerung Hasskampagnen gegen die USA führe. Der nationale Sicherheitsrat analysierte das Thema und fand heraus, dass man in der arabischen Welt der Auffassung war, die USA verhindere Demokratie und Entwicklung in der Region und unterstütze brutale Regime, um die Kontrolle über ihr Öl zu erhalten.
Der Bericht folgerte, dass diese Wahrnehmung mehr oder weniger den Tatsachen entsprach und endete mit der Erkenntnis, dass es für die Interessen der USA vorteilhaft sei, genau so zu handeln. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Wenn es in Ägypten freie Wahlen gäbe, wären die Ägypter vermutlich nicht mehr unsere Brüder. Das ist der Grund, warum wir die Diktatur dort unterstützen. Das Gleiche gilt für Saudi-Arabien. Die USA - und auch Großbritannien - unterstützen fundamentalistische Regime, weil jene die Bevölkerung gut im Zaum halten.
Auf der anderen Seite werden Kriege damit gerechtfertigt, die Voraussetzungen für freie Wahlen und Selbstbestimmung zu schaffen. Können Bomben überhaupt Demokratie bringen?
In gewissem Sinne ja. Nehmen Sie zum Beispiel die amerikanische Revolution. Georg Washingtons Armee bestand aus einem Haufen von Terroristen, die die Menschen in Angst und Panik versetzten. Die amerikanische Revolution "produzierte" ungefähr gleich viele Flüchtlinge wie der Vietnamkrieg. Und um Ihre Frage zu beantworten: ja, erst gab es Krieg und Bomben und schließlich entstand das freieste Land der Welt.
Die politische Landschaft in den USA wird von zwei großen Parteien dominiert, deren Programme sich kaum voneinander unterscheiden. Fast könnte man von einem Einparteisystem sprechen . . .
Im demokratischen Sinn sind wir ein Einparteistaat. Theorien, wonach Demokraten und Republikaner wie zwei unterschiedliche Flügel ein und derselben Wirtschaftspartei agieren, gibt es bereits seit über 50 Jahren. In Grundfragen unterscheiden sich die Standpunkte der beiden Parteien tatsächlich kaum. Auch bei Themen von zentraler Bedeutung, wie etwa dem Gesundheitswesen. Die Bevölkerung wünscht sich seit Jahrzehnten mehrheitlich ganz klar ein nationales Gesundheitssystem. Aber die Pharmakonzerne sind dagegen! Wir sind vermutlich das einzige Industrieland der Welt, wo die Regierung nicht autorisiert ist, mit den Pharmafirmen über die Preise von Medikamenten zu verhandeln! Und warum? Ganz einfach, weil die großen Firmen einen enormen Einfluss auf die Regierung haben und Gesetzte veranlassen, die ihre eigenen Interessen schützen.
Warum haben andere politische Kräfte in den USA praktisch keine Chance?
Das hat historische Gründe. In den 1930er Jahren gab es einen starken politischen Aktivismus, der die Oberklasse das Fürchten lehrte, weil er darauf abzielte, die Fabriken zu übernehmen. Die Industriellen fühlten sich durch die steigende Macht der Massen stark bedroht. Streiks wurden gewaltsamen niedergeschlagen, Später griff man zu subtileren Methoden. Die Wirtschaft startete riesige Propagandakampagnen, die ein neues Bild von Amerikanismus, Harmonie, Glaube und Markt etablierten. Man nannte das "wissenschaftliche Methoden des Streikbrechens". Wenn es in einer Stadt einen Streik gab, besuchte man die Schulen, sprach mit den Medien und der Kirche und verankerte so die gewünschte Botschaft in den Köpfen der Menschen. Nämlich dass wir - die Eigentümer, die Manager, die Pfarrer, die Hausfrauen - die guten, die schwer arbeitenden Amerikaner sind, die in Harmonie und in Frieden leben wollen. Der freundliche Bankangestellte vergibt Kredite, der Arbeiter geht gerne zur Arbeit, die Hausfrau kocht - und jeder ist glücklich. Doch dann gibt es die Außenseiter - also die Streikenden -, die dieses harmonische Leben zerstören wollen, und gegen die wir uns wehren müssen.
Gibt es in den USA mehr politische Propaganda als in anderen Demokratien?
Es ist bemerkenswert, dass die Public Relations-Industrie, die im Grunde ja eine Propagandaindustrie ist, in den zwei freizügigsten Ländern der Welt entstanden ist - nämlich in Großbritannien und den USA. Als sich die herrschende Klasse in England um 1900 bewusst wurde, dass sie keine Macht mehr über die kleinen Leute ausüben konnte, sobald diese Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften gründeten, begann sie, die Unterschicht anders zu kontrollieren, nämlich, indem sie deren Meinungen und Einstellungen systematisch beeinflusste.
Die "ignoranten" Massen sollten zwar brav konsumieren, sich aber von den Entscheidungsprozessen fernhalten. Diese Denkweise zieht sich durch die gesamte Wirtschaftsliteratur und ist sogar in progressiven, intellektuellen Kreisen zu finden.
Warum konnte sich dieses Weltbild in den USA so lange halten?
Vermutlich, weil wir eine Gesellschaft von Einwanderern sind. Zudem erfolgte die Besiedlung wahnsinnig schnell. Europa dagegen hat alte Feudalstrukturen, die die Gesellschaft seit langem strukturieren und einen gewissen Halt bieten.
Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler vertritt die Theorie, dass die Welt im Begriff ist, zur Feudalherrschaft zurückzukehren, und die großen Konzerne heute ähnlich agieren wie früher der Adel. Wie denken Sie darüber?
Ich würde das nicht feudal nennen, denn das Feudalsystem funktionierte anders. Im Feudalsystem hatte jeder seinen Platz, vielleicht einen schlechten Platz, aber doch seinen Platz. Selbst ein Dienstbote hatte gewisse Rechte, denn der Feudalherr musste für ihn sorgen. Als das Marktsystem zunächst in England eingeführt wurde, geschah das gewaltsam. Man nahm den Leuten ihre Rechte weg. Die klassischen Ökonomen vertraten eine äußerst radikale Position: Demnach hat der Mensch keine eigentlichen Rechte, der einzige Wert, den er besitzt, ist das, was er am Arbeitsmarkt verdient. Das ist den Menschen nur schwer einzutrichtern. Es führte zu Aufständen, und schließlich wurde der Widerstand so stark, dass die britische Regierung nachgeben musste und den Wohlfahrtsstaat einführte. Im Konzernwesen hingegen passierte das nicht, dort herrscht nach wie vor nach das "Friss oder stirb"-Prinzip.
Glauben Sie, dass die Wirtschaftskrise nicht nur ein Rückschlag, sondern auch eine Chance ist, etwas zu verbessern?
Natürlich, eine Krise schafft neue Möglichkeiten, aber sie birgt auch Gefahren. Denken Sie nur an die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre in Deutschland, die dramatische politische Folgen hatte. Und derartiges rechtsradikales Gedankengut gibt es auch in den USA. Wie lange sind Sie noch hier?
Noch vier Wochen.
Sind Sie mit dem Auto unterwegs?
Ja.
Wenn Sie ein Autoradio haben, hören Sie sich die Talkshows an. Das ist sehr aufschlussreich. Die haben Millionen von Zuhörern, ein riesiges Publikum. Was dort geredet wird, klingt sehr ähnlich wie die Nazi-Propaganda in den frühen 30er Jahren. Die Anrufer kommen meist aus der unteren Mittelschicht. Diese Leute verstehen nicht, wie ihnen geschieht. Sie beschreiben sich selbst als ehrliche, schwer arbeitende, gottesfürchtige Amerikaner. Ihre Gehälter sind seit 30 Jahren nicht mehr gestiegen, zudem erhalten sie keine staatlichen Unterstützungen. Für diese Menschen läuft derzeit alles falsch. Sie verstehen aber nicht, warum, weil sie ja doch alles richtig machen. Also muss es irgendwelche bösen Kräfte geben, die ihnen das alles antun. Deutschland stürzte damals innerhalb von nur zehn Jahren von einem Land, in dem Kunst, Wissenschaft und Literatur florierten, in den Abgrund der Barbarei. Wenn es Obama nicht gelingt, die Wirtschaft anzukurbeln, wäre ich nicht überrascht, in den USA etwas Vergleichbares zu erleben.
Haben Sie Angst davor?
Ich mache mir jedenfalls Sorgen, ernsthafte Sorgen.
Zur Person
Avram Noam Chomsky wurde 1928 in Philadelphia geboren und gilt als Begründer der modernen Sprachwissenschaften. Die nach ihm benannte Chomsky-Hierarchie revolutionierte die Linguistik und spielt auch in der theoretischen Informatik eine wichtige Rolle. Gemeinsam mit den Arbeiten Alan Turings begründeten Chomskys Theorien einen eigenen Bereich in der Mathematik und machten natürliche Sprachen einer mathematischen Betrachtung zugänglich, unter anderem mit dem Ergebnis, dass maschinelle Übersetzungen grundsätzlich möglich sind.
Chomskys linguistisches Werk beeinflusste auch die Entwicklung der Psychologie im 20. Jahrhundert. Seine Idee einer Universalgrammatik war ein Angriff auf die damals etablierten Theorien in der Verhaltensforschung und förderte den Niedergang des Behaviorismus zugunsten der Kognitionswissenschaft. Sie hatte erhebliche Auswirkungen auf das wissenschaftliche Verständnis des kindlichen Spracherwerbs und der menschlichen Fähigkeit, Sprache zu interpretieren.
Seit 1961 ist Noam Chomsky Professor am Institut für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Im Zuge des Vietnamkriegs etablierte er sich neben seiner linguistischen Arbeit als politischer Querdenker und gilt seither als einer der bedeutendsten linken Intellektuellen in den USA. Heute ist Chomsky vor allem als scharfer Kritiker der amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik, der politischen Weltordnung und der Macht der Massenmedien sowie als vehementer Globalisierungsgegner bekannt.
Laut dem "Arts and Humanities Citation Index" von 1992 war Chomsky zwischen 1980 und 1992 die am häufigsten zitierte lebende Person der Welt. Auch von der "New York Times Book Review" wurde Chomsky als der "wichtigste Intellektuelle der Gegenwart" bezeichnet. Noam Chomsky dazu: "Das Zitat wurde von einem Verlag veröffentlicht, daher sollte man besonders genau nachlesen. Sieht man sich nämlich das Original an, dann heißt es dort weiter: Wenn dies der Fall ist, wie kann er dann solchen Unsinn über die amerikanische Außenpolitik schreiben? Dieser Zusatz wird aber nie zitiert. Ehrlich gesagt: Gäbe es ihn nicht, müsste ich glauben, etwas falsch zu machen."
Sonja Stummerer, geb. 1973, und Martin Hablesreiter, geb. 1974, leben als Architekten, Designer und Autoren in Wien. Soeben ist im Springer Verlag ihr neuestes Buch, "food design XL", erschienen.