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Noch heuer: Nordpol ohne Eis?

Von WZ-Korrespondent André Anwar

Wissen

Lage wie zuletzt vor 100.000 Jahren. | Eisbären und Robben verlieren Lebensgrundlage. | Anrainer wollen Region ausbeuten. | Stockholm. Es klingt unwirklich. Erstmals seit mindestens einhunderttausend Jahren könnte das Eis auf dem Nordpol in diesem Sommer ganz verschwinden, warnen amerikanische und skandinavische Forscher. Die Chance eines völlig eisfreien Nordpols liege bei 50 Prozent, ließ neben anderen Stellen das US-Institut "National Snow and Ice Data Center" (NSIDC) verlauten.


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"Wir gehen in diesem Jahr auf einen neuen Rekord zu. Zurzeit ist die Eisdecke der Arktis beides: dünner und jünger, als wir es jemals zuvor registriert haben", sagt NSIDC-Forscher Sheldon Drobot. Die Wahrscheinlichkeit eines eisfreien Nordpols in diesem Jahr liege bei 50 Prozent. Bald könne man tatsächlich völlig ungehindert mit einem Boot durch völlig offenes Wasser zum Nordpol fahren, so Drobots Kollege Mark Serrez. "Aus einer rein wissenschaftlichen Perspektive ist der Nordpol nur ein weiterer Punkt auf dem Globus. Aber er hat einen sehr hohen symbolischen Stellenwert in der Klimawandeldiskussion."

Ein eisfreier Nordpol wurde zwar in einigen Klimamodellen vorausgesagt, dies allerdings frühestens in 20 Jahren. Der Weltklimarat IPCC rechnete noch vor nicht all zu langer Zeit mit einer solchen Entwicklung erst zum Ende des Jahrhunderts.

Seit den siebziger Jahren hat das Meereseis sich durchschnittlich um acht Prozent pro Jahrzehnt reduziert. Nun verlangsamt sich die Reduktion. Das ist aber kein gutes Zeichen, im Gegenteil: Das bedeutet laut Klimaforschern, dass das Eis in diesem Jahr mehr als jemals zuvor aus neu gebildetem Eis besteht. Die US-Forscher glauben, dass 70 Prozent des gegenwärtigen Meereseises lediglich ein Jahr alt ist. Es schmilzt deutlich schneller. Alleine im April ist eine Eisfläche von 6000 Quadratkilometern pro Tag geschmolzen, zeigen Satellitenmessungen. Das entspricht mehr als dem doppelten der Fläche Luxemburgs.

Stärkster Beweis fürKlimaerwärmung

Eine weitere Erklärung dafür, dass das Eis so schnell schmilzt, ist der sogenannte Albedoeffekt. Das weiße, von Schnee bedeckte Eis reflektiert die Wärmestrahlen der Sonne zurück ins Weltall. Das zunehmend eisfreie, dunkle Meereswasser absorbiert dagegen die Sonnenwärme. Je weniger Eis die Sonnenstrahlen reflektiert, desto schneller wärmt sich die Polarregion auf.

Klimaforscher des meteorologischen Institutes der Universität Stockholm haben in einer kürzlich veröffentlichten Studie einen weiteren Schmelzbeschleuniger entdeckt. Demnach soll die Aufwärmung laut Satellitenmessungen oben in der Atmosphäre über der Arktis noch viel größer sein als die Aufwärmung der Arktisoberfläche selbst.

"Die wärmere Atmosphäre weiter oben über der Arktis erhöht die Wärmestrahlung auf das schmelzende Eis", sagt Grand Graversen vom meteorologischen Institut in Stockholm. Graversen sieht ähnlich wie die meisten seiner Kollegen die schmelzende Eisdecke als "den stärksten Beweis" dafür an, dass die Menschen mit dem Ausstoß von Treibhausgasen wie Kohlendioxid das Klima der Erde erwärmen.

Die Arktisanrainerländer sehen nun eine Chance, endlich an die bislang von dicken Eisschichten bedeckten Bodenschätze des Nordpols zu gelangen. Der Wettlauf hat längst begonnen: Russland hat symbolisch mit einer Flagge seinen Anspruch auf den Nordpol deutlich gemacht. Dänemark und Kanada streiten um die kleine Insel Hand im Nordwesten Grönlands. Und alle fünf direkten Arktisanrainer - zu ihnen gehören auch die USA und Norwegen - wollen den Rest der Welt von der Ausbeutung der riesigen Region ausschließen.

Tierwelt ist in ihrerExistenz bedroht

Doch die Tierwelt des Nordpols ist in ihrer Existenz bedroht. Die auf der Eisdecke lebenden Robben sind völlig abhängig vom Eis. Für Eisbären ist das Eis Voraussetzung für die Fortpflanzung. Zwar gebären sie den Nachwuchs an Land, aber sie jagen ihr Futter weiter draußen an den Kanten des Eises. Kleine Eisbären können noch nicht so lange Abstände vom Land bis zum Jagdrevier schwimmen. Wenn das Eis sich immer weiter entfernt, droht eine Hungersnot.

Noch sei nicht aller Tage Abend, sagt Neil Hamilton vom Arktisprogramm der Naturschutzorganisation WWF. "Die Arktis kann sich wieder erholen. Wir haben noch Zeit, etwas zu tun, aber es muss jetzt geschehen", sagt er.