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Noch immer eine offene Wunde

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Die Anhörung zur Brandkatastrophe hat begonnen. Noch immer leben 150 Familien in provisorischen Unterkünften.


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London. Drei Monate ist es her, dass Grenfell Tower lichterloh in Flammen stand, an jenem entsetzlichen Londoner Juni-Morgen. Mehr als 80 Menschen sollen bei dem Feuer im Wohnblock getötet worden sein. Identifiziert worden sind erst 59. Und noch immer, drei Monate danach, kommen schockierende Augenzeugenberichte ans Tageslicht, über die damaligen Ereignisse in Nord-Kensington. Diese Woche hat ein 24-jähriger Ingenieur-Student im britischen Fernsehen geschildert, wie er mit seiner behinderten Mutter auf dem Rücken aus dem obersten Stockwerk des Wohnblocks durchs schwarz qualmende Treppenhaus über die Leichen von Mitbewohnern ins Erdgeschoß, zum rettenden Ausgang, taumelte.

Nach Ausbruch des Feuers, berichtete Farhad Neda, seien zunächst dutzende Anwohner nach oben gelaufen, um dort an die Türen zu schlagen und Nachbarn wie die Nedas vor den lodernden Flammen zu warnen. Viele suchten Unterschlupf in den Wohnungen auf dem obersten Stockwerk: Am Telefon, keuchten sie, habe man ihnen gesagt, dass Feuerwehr-Hubschrauber unterwegs seien, um sie zu retten. Hubschrauber flogen tatsächlich ums Gebäude zu jener Zeit - aber nur, um die Lage zu erkunden. Den Eingeschlossenen vermochte aus der Luft niemand zu helfen. Das Feuer, das sich über die Platten-Verkleidung an der Außenseite des Towers rasend schnell ausbreitete, ließ hoch droben nur den wenigsten eine Chance.

Vom obersten Stockwerk kam außer Farhad Neda und seiner Mutter Flora niemand mit dem Leben davon. Farhads Vater Saber soll sich, wie viele andere Opfer des Brands, aus dem Fenster in den Tod gestürzt haben, um den Flammen zu entgehen. All das, vor allem aber auch die Ursache der Katastrophe und die Reaktion der Verantwortlichen, soll nun bei einer öffentlichen Anhörung zur Sprache kommen, die am Donnerstag in London eröffnet wurde.

Die amtliche Untersuchung wird von Martin Moore-Bick, einem ehemaligen hohen Richter, geleitet. Parallel zu der Anhörung nehmen polizeiliche Ermittlungen wegen mutmaßlicher Tötung ihren Gang. Moore-Bick, der Untersuchungsrichter, hat allerdings ein Problem, das bereits sichtbar wurde: Die Betroffenen bringen ihm wenig Vertrauen entgegen.

Die aus den ärmsten Schichten der Londoner Bevölkerung kommenden Menschen, die im Schatten der ausgekohlten Ruine Grenfell Towers leben, argwöhnen nämlich, dass sie mit technokratischen Erklärungen, mit Floskeln des Bedauerns abgespeist werden sollen.

"Denen haben wir nie etwas bedeutet"

Der Verdacht der Angehörigen der Opfer und der Bewohner der Nachbar-Blocks ist, dass der dem wohlhabenden Teil der Bevölkerung verpflichtete örtliche Tory-Stadtrat den Grenfell Tower mit gefährlichen Materialien verkleiden ließ, um "seinen" Wählern vor Ort statt grobem Beton eine gefällig-glatte Kulisse am oberen Ende des Stadtteils zu liefern.

Außerdem glauben die Betroffenen, dass Stadtrat, Block-Administratoren, Baubehörden und Baufirmen keinerlei Interesse an der Sicherheit der Tower-Bewohner hatten. Einer, der selbst auf dem 16. Stock des Grenfell-Turms wohnte, hatte in der Tat seit Jahren schon davor gewarnt, dass der Tower eine Feuerfalle sei - ohne dass ihm jemand Gehör schenkte bei den Verantwortlichen. Edward Daffarn von der Grenfell Action Group prophezeite noch vorigen November in seinen Blogs, erst eine Katastrophe und "ein ernster Verlust an Leben" werde Aufmerksamkeit für die Missstände wecken. Für Politiker, Planer und Immobilienhaie sei Nord-Kensington schlicht "eine Goldgrube" gewesen, meint Daffarn heute: "Die mussten nur die Leute, die hier wohnten, immer weiter an den Rand drängen - und das taten sie auch. Denen haben wir nie etwas bedeutet."

Schwer traumatisiert und ohne Zuhause

Beigetragen hat zum allgemeinen Unmut, dass sich die Menschen rund um die Tower-Ruine so kurz nach der Katastrophe schon wieder vergessen fühlen. Zum Beispiel wollte Premierministerin Theresa May sie binnen drei Wochen neu behausen lassen. Aber zur Zeit wohnen noch immer 150 Familien in Hotelzimmern, meist in beengten Verhältnissen. Nur zwei Familien sind in feste neue Unterkünfte eingezogen.

Das Trauma jener Nacht steht vielen der Überlebenden ohnehin noch ins Gesicht geschrieben. Zwanzig derer, die dabei waren, sollen seither versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Andere aber, die anderswo im Lande in ähnlichen Hochhäusern wohnen, fragen sich regelmäßig bang, ob ihnen das gleiche Los drohen könnte. Denn bei den seit Grenfell durchgeführten Feuertests haben sich 165 Sozialwohnungsblocks als potenzielle Feuerfallen erwiesen. Und nur zwei Prozent aller Hochhäuser mit Sozialwohnungen, hat die BBC heraus gefunden, verfügen über Sprinkleranlagen. Seit zehn Jahren sind solche Systeme Pflicht für Neubauten von mehr als 30 Metern Höhe. Aber bei allen vor 2007 gebauten Blocks noch nachträglich Sprinkler einzubauen - dazu fehlen den Stadtverwaltungen nach eigenem Bekunden die nötigen Gelder.