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"Noch ist die Ukraine nicht gestorben"

Von Thomas Seifert aus Kiew

Politik

Bundespräsident Alexander Van der Bellen besuchte Kiew - und versprach der Ukraine weitere Unterstützung.


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In den Klassen 7a und 3d der Schule Nummer 3 der Stadt Butscha hat sich heute hoher Besuch angemeldet: Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen ist in die Ukraine gekommen.

Dort trifft er unter anderem auf Ira, 12 Jahre alt, selbstgebastelte Ohrringe in den ukrainischen Nationalfarben, Silberschmuck-Halsband in Form des ukrainischen Dreizacks - Trysub. Sie ist Schülerin der Klasse 7a und sie ist eine von 43,75 Millionen Menschen in der Ukraine, deren Leben durch den Krieg völlig auf den Kopf gestellt wurde. Neben ihr steht Sophia. Sophia hat Österreich-Erfahrung, denn durch die Flucht ihrer Familie den Krieg hat sie Linz kennengelernt - dorthin ist sie mit ihrer Familie während der Kampfhandlungen geflüchtet.

Olya Mahotenko, die lebendige, quirlige Lehrerin stellt Sophia als herausragende Sängerin vor, die schon viele Wettbewerbe gewonnen hat. "Sing doch für uns", sagt die Lehrerin und Jelena stimmt die ukrainische Nationalhymne an. "Schtsche ne wmerla Ukrajina - noch ist die Ukraine nicht gestorben". Nicht nur die Schülerinnen und Schüler lauschen ergriffen.

Hilfe aus Österreich

Butscha erlitt bei der russischen Invasion im Februar und März 2022 massive Zerstörungen. In der Aula der Schule, in der 1.600 Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden, weist ein Schild darauf hin, dass das Gebäude und die Klassen mit Hilfsmitteln aus Österreich, von Nachbar in Not, Caritas, Volkshilfe und Rotem Kreuz wieder instandgesetzt wird. So wurde das Dach der Schule mit österreichischer Hilfe komplett erneuert.

Van der Bellen beim Besuch in der Schule.
© Seifert

Unmittelbar vor dem Besuch der Schule war Van der Bellen bei der St. Andreas-Kirche und der Pyervozvannoho-Allerheiligen und ließ sich von Andrij Halavin, Priester der Kirche, die Geschichte des Massakers von Butscha berichten. In der Stadt wurden die Leichen von 458 Menschen gefunden.

458 Menschen haben ihr Leben verloren, von den Leichen trugen 419 Anzeichen dafür, dass sie erschossen, gefoltert oder erschlagen worden waren. Butscha, die Stadt, die vor dem Krieg rund 42.000 Einwohner zählte, war gleich zu Beginn des Krieges am 24. Februar völlig vom russischen Angriff überrascht worden. Russische Luftlandetruppen versuchten damals, beim nahegelegenen Flughafen in Hostomel zu landen, Hubschraubergeschwader knatterten über die Stadt, auf dem Flughafen tobte eine verzweifelte Abwehrschlacht der ukrainischen Verteidiger gegen die russische Armee. Der ruhige, beschauliche Vorort von Kiew war zur Kampfzone im größten Krieg auf europäischem Boden seit 1945 geworden.

Nun steht Bundespräsident Alexander Van der Bellen gemeinsam mit Klimaministerin Leonore Gewessler und Wirtschaftsminister Martin Kocher vor einer mit Blumen geschmückten und Bändern in den ukrainischen Nationalfarben verzierten Gedenkstelle vor der Kirche. Jemand hat Stofftiere an das Mahnmal gelegt.

Es sei wichtig, dass die Welt wisse, was hier geschehen sei, meint der orthodoxe Pater Andrij Halavin und zeigt auf ein rotes Haus. Dieses habe einer Familie gehört, die bereits vor Jahren aus der Donbass-Region hierher geflohen sei, um den dortigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen russischen Separatisten und ukrainischen Verbänden zu entgehen. Das Haus der Familie sei wie viele in der Stadt ausgeplündert und zerstört worden, erzählt der Pater. Die Leichen der Frau mit ihren Kindern fand man später im ausgebrannten Auto. In der Kirche werden in einer Ausstellung Fotos der Gräuel von Butscha gezeigt. Bilder, die zeigen, wie Leichen auf der Straße liegen oder in Plastiksäcke gehüllt sind. Bilder, die vor etwas weniger als einem Jahr durch die Weltpresse gingen.

Ein Video zeigt aber auch Bilder aus der Zukunft dieses Trauerortes. In Renderings ist zu sehen, wie die Gedenkstätte rund um die Kirche eines Tages aussehen soll.

Auch die von Russland angerichteten Zerstörungen bekam die Delegation zu sehen.
© Seifert

In der Woksalnya-Straße, durch die vor etwas weniger als einem Jahr die russischen Panzer gerasselt sind und dort dann von den ukrainischen Verteidigern zerstört wurden, sieht man überall die Spuren von Renovierungsarbeiten. Kaum ein Haus in der Straße war im Februar und März 2022 von den Kampfhandlungen verschont geblieben. Als Bundeskanzler Karl Nehammer Anfang April 2022 Butscha besuchte, waren noch ausgebrannte Panzerwracks am Rand der Straße zu sehen, über das ganze Viertel hatte sich eine Schicht aus Asche und Staub gelegt. Bei den Reparaturen in Butscha unterstützt die Volkshilfe mit einem lokalen Partner Menschen bei der Wiederinstandsetzung ihrer Wohnungen und Häuser - etwa beim Austausch von Fenstern, Scheiben oder Türen sowie bei der Behebung von Schäden an Dächern und Wänden. Fast 700 Familien konnten bisher von der Hilfe aus Österreich erhalten.

"Heute ein Massengrab"

Bei seinem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im barocken Marienpalast im Regierungsviertel von Kiew nahm Van der Bellen auf seinen Besuch in Butscha Bezug: "Das Leid, die Zerstörung, das Unrecht, die Grausamkeit des Krieges ist dort besonders spürbar. Butscha war eine wunderschöne Kleinstadt - heute ist dort ein Massengrab."

Vor zwei Jahren seien Van der Bellen und Selenskyj einander in Wien begegnet, "aus Ihrer Sicht fühlt sich das wahrscheinlich weit, weit weg an - wie aus einem anderen Leben. Das Leben aller Menschen in der Ukraine ist seit fast genau einem Jahr - ein komplett anderes." Bei der Pressekonferenz wurde der Bundespräsident von einer ukrainischen Journalistin gefragt, ob Österreich nicht die Ukraine mit Waffenhilfe unterstützen könne. Van der Bellen verwies auf die Neutralität, die das verunmögliche - umso mehr müsse man die Ukraine mit humanitärer Hilfe unterstützen.

Der ukrainische Präsident Selenskyj dankte für die Unterstützung, hatte aber auch kritische Anmerkungen. Die russische Raiffeisen-Niederlassung würde in seinen Filialen in Russland russische Soldaten unterstützen, deren Kredite für die Zeit ihres Dienstes gestundet seien.

Van der Bellen sichert Selekskyj der Ukraine weitere Unterstützung zu: durch den Gemeindebund, Hilfsorganisationen und die Bundesregierung. Seine Abschlussbotschaft in Kiew: "Wir werden angesichts der Herausforderungen noch mehr Solidarität, Geschlossenheit und Entschlossenheit brauchen. Unser gemeinsamer Wille in Frieden und Freiheit zu leben ist stärker als jede Aggression."

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