Wollte man in den vergangenen Jahren die Kontakte zwischen der EU und der Ukraine verbessern, so musste man vor allem um Verständnis in Brüssel werben. Nunmehr scheint es, als müsste man primär in der Ukraine selbst aktiv werden. Seit dem Amtsantritt von Wiktor Janukowitsch als Präsident ist das Land wieder etwas nach Osten gerückt. Dies geschieht einerseits in der politischen Praxis durch eine Ausrichtung auf Russland hin, andererseits auch durch eine Meinungsbildung im eigenen Land.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die Teilung der Ukraine läuft nicht einfach nach dem Schema: Westen pro EU, Osten pro Russland. Vielmehr besteht die Spaltung oft im Denken der einzelnen Bürger selbst. So ergab eine Umfrage folgendes widersprüchliche Bild: Jeweils 69 Prozent sprachen sich für die Ukraine als Teil eines ostslawischen Staates beziehungsweise für eine ukrainische EU-Mitgliedschaft aus. Das bedeutet nichts anderes, als dass in den vergangenen Jahren ein Kampf um das geschichtliche Gedächtnis der Ukrainer stattgefunden hat, wie der Historiker Jaroslav Hrytsak kürzlich in einem Vortrag in Wien erläuterte.
Ein diesbezüglich wesentliches Ziel des früheren Präsidenten Juschtschenko bestand in der Anerkennung des Hungertods von mehr als drei Millionen Ukrainern während der stalinistischen Zeit als Genozid. Das gelang wohl vorübergehend, in den neuen Schulbüchern wird dieses Ereignis jedoch nicht mehr erwähnt. Generell werden anti-sowjetische Darstellungen unterdrückt.
Nicht überraschend ist die erneute Förderung der russischen Sprache. Dennoch gibt es einen bedeutenden Anteil von russischsprachigen Proeuropäern. Es sind eben äußerst fragile Verhältnisse, die noch nicht völlig gekippt sind.
Wie sehr die ukrainische Erde wie auch jene anderer osteuropäischer Gebiete mit Blut getränkt ist, wird von Timothy Snyder in seinem neuen Buch "Bloodlands: Europe between Hitler and Stalin" eindrucksvoll dargestellt. Darin gibt er dem im Vergleich zum nationalsozialistischen bisher vernachlässigten stalinistischen Terror Raum. Der britische "Economist" hebt ausdrücklich die gewissenhafte und nuancierte Darstellung hervor.
Sowohl Hrytsak als auch Snyder haben Forschungsaufenthalte am "Institut für die Wissenschaften vom Menschen" (IWM) absolviert, und manche ihrer Publikationen waren erst dadurch möglich. Das "Institut für den Donauraum und Mitteleuropa" (IDM) wirkt mit vielen Konferenzen und Lehrgängen im ost- und südosteuropäischen Raum. Beide Institute veranstalten hochkarätige Vorträge. Es wäre daher ein unverantwortlicher geistiger Kahlschlag, wenn Institute wie IDM und IWM finanziell ausgehungert würden.
Gerade auf Grund der bisher ermöglichten Forschung hat Österreich in Ost- und Südosteuropa noch einen guten Ruf zu verlieren. Wir werden gebraucht. Noch ist die Ukraine nicht verloren.
Paul Mychalewicz ist AHS-Lehrer in Wien.