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Literaturlisten so in etwa auf Basis "Was Sie gelesen haben müssen" stürzen einen ja regelmäßig in Verzweiflung. Schon recht, wenn auf Platz eins die Bibel steht, immerhin sollten auch Atheisten Lesefutter in ihr finden, denn zumindest hat keiner, der nicht Ovid heißt, ein erotischeres Gedicht als Salomos Hohelied geschrieben. Aber danach kommen in der Regel Saint-Exupérys naseweiser Alien und sein direkter Erbe in Gemeinplätzen, Paulo Coelho. Mit etwas Glück findet sich dann auf Platz 99 von 100 noch Goethes "Faust".
Jetzt aber hat der WDR 3, der sich nicht nur Kulturradio nennt, sondern auch eines ist, auf Facebook die Frage gestellt: "Welchen Klassiker sollte jeder lesen?" Zieht man ein paar Spaßvögel ab, die Stephen King vorschlagen und "Vom Winde verweht", was ein noch weit größerer Lesehorror ist als "Es", dann ist die Liste recht beachtlich: Dostojewski, Fallada, Fontane, Heine, Lessing, Seghers, Shakespeare, Wilde und manch anderes, bei dem Freude aufkommt. Einer schlägt sogar Thomas Bernhard vor und ein anderer Marlen Haushofer. Noch ist also nicht alles verloren beim Leseverhalten in deutschsprachigen Landen. Betrüblich ist nur die Absenz von Lyrik: Keine Schiller-Ballade, kein Goethe-Gedicht, kein Hölderlin, kein Brecht-Gedicht, nicht einmal der viel gelesene Zeitgenosse Robert Gernhardt wird genannt.
Also, bitte: Verse beißen nicht! Und fallweise sind sie echt spannend. Goethes "Erlkönig" etwa schlägt Stephen Kings "Es" bei weitem an Gruselfaktor!