Libyen wurde vom Westen allein gelassen, der Machtkampf hält das Land in Geiselhaft.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Tripolis. Der Zeitpunkt ist - sachte formuliert - ungünstig: Am heutigen Donnerstag muss die Bevölkerung Libyens jene 60 Vertreter wählen, die dann als Komitee eine neue Verfassung ausarbeiten sollen. Überschattet von zwei Putsch-Versuchen binnen weniger Tage, droht diese ohnehin umstrittene Abstimmung zur nächsten Runde des chronischen und ebenso chaotischen Machtkampfes zu werden. "Ich werde nicht zur Wahl gehen", sagt etwa Zahra Langhi, seit den Revolutions-Tagen eine der prominentesten Aktivistinnen in der Stadt Bengasi. "Angesichts der verheerenden Sicherheitslage und den unfairen Bedingungen der Abstimmung ist es eine Farce."
Viele denken wie Langhi. Mehrmals wurde diese Wahl seit verschoben, erst am 4. Februar konnte sich die Interims-Führung für den Termin am 20. Februar entscheiden. Somit blieben lediglich drei Wochen Zeit, um sie zu organisieren. Verwunderlich ist es also nicht, dass sich nur ein Drittel der Bevölkerung registriert hat: 1,1 Millionen besitzen eine Wahlkarte; 3,4 Millionen wären stimmberechtigt.
Der äußerst komplizierten Wahl stellen sich insgesamt 649 Kandidaten. Eine mehrfache Quoten-Regelung soll garantieren, dass Frauen und Minderheiten vertreten sind, festgelegt ist auch die Verteilung der Sitze zwischen den Regionen: Tripolitanien, das Fezzan im Süden und die östliche Provinz Barqa erhalten je zwanzig Sitze. Für Unmut sorgt dabei aber, dass in Tripolitanien deutlich mehr Menschen leben als in den anderen Regionen und auch, dass die Minderheiten nur minimale Quoten-Plätze bekamen.
Islamisten etablieren sich
Also keine optimalen Startbedingungen für die Lösung der haarigen Fragen, die in der neuen Verfassung zu regeln sind: Dazu zählt die Aufteilung des Öl- und Gas-Reichtum Libyens zwischen den Regionen oder auch die Rolle des islamischen Rechts, der "Scharia". Das Problem dieser Wahl fängt aber bereits mit dem banalen Umstand an, dass sie niemals hätte stattfinden sollen. Der Plan der Übergangsordnung, erarbeitet nach dem Sturz Gaddafis im Herbst 2011, hätte vorgesehen, dass erst ein Übergangsparlament, der "Nationalkongress", gewählt wird, aus dessen Reihen sich dann die verfassunggebende Versammlung rekrutiert.
Die Betonung liegt hier aber, wie so oft im Fall Libyen, auf dem kleinen Wort, "hätte". Statt sich dieser zentralen Aufgabe zu widmen, konzentriert man sich dort auf Grabenkämpfen. "Es gibt niemand, der stark genug ist, um in diesem Land zu regieren und gleichzeitig ist jede Gruppe stark genug, um die Versuche der anderen zu sabotieren", sagt der Journalist Mohamed Eljarh. Zwei Macht-Pole kristallisierten sich in den vergangenen Jahren heraus, die nun mit wachsender Vehemenz um die Kontrolle Libyens ringen: die nationalistisch-liberale "Allianz der Nationalen Kräfte" um Mahmoud Dschibril sowie ein islamistischer Block, in dessen Zentrum die "Partei für Freiheit und Gerechtigkeit", der politische Flügel der libyschen Muslimbruderschaft steht.
Dschibrils Gruppe gewann die Wahlen zum Nationalkongress, im Juli 2012 fulminant. Die Muslimbrüder hingegen konnten nur knapp ein Fünftel der Stimmen auf sich vereinen. Doch sukzessive gelang es ihnen, sich an den Machthebeln Libyens zu positionieren. Das im Vorjahr beschlossene "Isolationsgesetz" war dabei der Durchbruch: Es legte fest, dass Amtsträger der Ära Gaddafi von politischen Funktionen ausgeschlossen würden. Dazu zählt fast die gesamte Führungsmannschaft der "Allianz der Nationalen Kräfte", inklusive Dschibril. Die Bruderschaft übernahm nach der Verabschiedung dieses Gesetzes zentrale Positionen im Nationalkongress, in der Nationalbank und im Ölministerium.
Gleichzeitig wurde das Verteidigungsministerium wie auch der Posten des Regierungschefs zur Bastion der Allianz um Dschibril. Parallel dazu wurde auch ein Großteil der hunderten Milizen zwischen den Machtblöcken "aufgeteilt". So gelten die Milizen aus dem Westen bereits als bewaffneter Flügel der "Allianz der Nationalen Kräfte".
Und diese lassen nun ihre Muskeln spielen; sie fordern sofortige Neuwahlen des Übergangsparlaments, das von den Muslimbrüdern faktisch kontrolliert wird. "Die Islamisten sind eine Seuche und wir werden Libyen von ihr heilen", kündigten die Milizführer am Dienstagabend vor laufenden TV-Kameras an: "Wir geben dem Nationalkongress bis 21 Uhr Zeit, um zurückzutreten." Postwendend erklärte der den Muslimbrüdern nahestehende Sprecher des Übergangsparlaments, Abu Nui Sahmain, die mit seiner Gruppe verbündeten Milizen zu mobilisieren. Es war erst der Vertreter der UNO in Libyen, Tarek Mitri, dem es gelang, die aufgeregte Lage zu beruhigen: "Wir konnten die Milizen dazu bewegen, bis zum Wochenende zu verlängern", berichtete er am Mittwoch. Dies bedeutet, dass somit die Wahlen für das Verfassungs-Komitee über die Bühne gehen können; zugleich wird es aber auch baldige Neuwahlen für das Parlament geben. Ob bis dahin, die Verfassung fertiggestellt werden kann, bezweifeln alle Beobachter.
Das Geld geht aus
Shadi Hamdi, Forschungsdirektor des "Brooking-Centers" in Doha und Experte für die arabischen Transformationsstaaten, geht indes hart ins Gericht mit der internationalen Gemeinschaft: "Es ist eine Tragödie, dass Libyen beim Aufbau von demokratischen Strukturen nach der militärischen Intervention gänzlich sich selbst überlassen wurde." So gelang es der Übergangsregierung bis dato nicht, Sicherheitskräfte aufzubauen, und das Land blieb den 250.000 irregulären Milizkämpfern aus Bürgerkriegszeiten überlassen. Spät, wie viele meinen, zu spät, lief die Hilfe im Spätherbst 2013 an. Nun werden in Italien, der Türkei und Großbritannien im Eiltempo 15.000 junge Soldaten ausgebildet. "Es wird aber Jahre dauern, bis wir eine einheitliche und effiziente Truppe werden", räumt ein Armee-Führer, Mohammed Yahin ein, dessen Spezialeinheit momentan die einzige funktionstüchtige reguläre Truppe darstellt: "Und ob wir nochmals Jahre haben, ist zu bezweifeln." Seine Skepsis ist berechtigt: Dem Land mit der neuntgrößten Erdöl-Exportquote geht angesichts der Dauer-Krise und der Blockade der Öl-Terminals derzeit das Geld aus.