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Noch nicht ganz zusammengewachsen und immer noch vermint: Bosnien-Herzegowina

Von Karl Pisa

Politik

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Der Flug von Wien nach dem in der Luft nur 495 km entfernten Sarajevo dauert nur eine Stunde. Zu wenig Zeit, um alles zu rekapitulieren, was diese beiden Städte im Laufe ihrer langen Geschichte getrennt oder verbunden hat. An kriegerischen Spontanassoziationen fehlt es nicht: 1914! Schon 1697 forderte Prinz Eugen Sarajevo ultimativ zur Übergabe auf. 1878 wird es nach Erteilung des Okkupationsmandates durch den Berliner Kongress von k.u.k. Truppen besetzt. Doch im Orwell-Jahr 1984 finden dort noch völkerverbindende Olympische Winterspiele statt. Und wie sieht es heute in der am längsten belagerten Stadt der jüngsten Geschichte aus? In der in den 1.395 Tagen zwischen dem 2. Mai 1992 und dem 26. Februar 1996 oft 4.000 Geschosse pro Tag einschlugen und 10.615 Menschen ihr Leben verloren und über 50.000 verwundet wurden.

Nur Ruinen erzählen noch ihre Geschichte

Verlässt man das moderne Gebäude des International Airport von Sarajevo, so erinnern nur Militärfahrzeuge mit der Aufschrift "SFOR" und italienische Soldaten daran, dass hier noch ein Ausnahmezustand herrscht. Die 13 Kilometer vom Flugplatz durch Novo Sarajevo legt man wie in jeder anderen Stadt im Verkehrsgetümmel von Autos, Lastwagen, Autobussen und Straßenbahnen zurück. Doch da ragt plötzlich der Oslobodenje-Wolkenkratzer empor, in dem, als er 1992 oben in Brand geschossen wurde, unten die Druckmaschinen weiter liefen und aus dem trotz fortgesetzten Beschusses die täglich neu erscheinende Zeitung durch die von Scharfschützen bedrohte "Sniper Alley" in die Innenstadt gebracht wurde.

Noch mehr weiß später die Ruine des Parlaments- und Regierungsgebäudes zu erzählen. Nach dem von den Serben boykottierten Unabhängigkeitsreferendum vom 1. März 1992 mit 99 Prozent Ja-Stimmen bei 63prozentiger Beteiligung hatten hier serbische Scharfschützen das Feuer auf 100.000 für den Frieden demonstrierende Menschen eröffnet. Später wurde dieses Gebäude von hunderten Geschossen getroffen. Und es erinnert auch daran, dass die Parlamentarier zuerst über den Flugplatz rennen oder später durch den 760 Meter langen und nur 1.60 Meter hohen Tunnel kriechen mussten, um zu den Sitzungen zu gelangen.

Wenn man heute zu Fuß eine der Brücken über die Miljacka überquert, braucht man nur auf die Autos zu achten. Vorbei ist die Zeit, in der hinter geschützten Ecken oder in UNO-Transportern Fotoreporter auf den Schnappschuss eines über die Brücke Rennenden und von einem Scharfschützen Getroffenen warteten. In der Flaniermeile der Ferhadija-Fußgängerzone sind die "Sarajevo-Rosen", die manchmal mit rotem Gummi gekennzeichneten Granateinschläge, verschwunden. Nicht weniger Menschen als im Juni in der Wiener Kärntnerstraße schlendern hier vorbei oder sitzen im Freien vor Kaffee- und Gasthäusern. Nur dass es viel mehr kleine Läden und Straßenverkäufer gibt und von überall her lauter Balkan-Rock dröhnt.

Warum Sarajevo ein "zweites Jerusalem" genannt wurde, erkennt man spätestens bei der römisch-katholischen Kathedrale. Denn nicht weiter als hundert Meter entfernt findet man auch die aus dem 16. Jahrhundert stammende alte jüdische Synagoge - jetzt jüdisches Museum -, die alte serbisch-orthodoxe Kirche aus dem Jahr 1539 und die Gaza Husrev Bey-Moschee aus dem Jahr 1551. Sie alle wurden im Krieg beschädigt, aber inzwischen renoviert.

Erst wenn man das türkische Quartier mit seinen unzähligen Kaffeehäusern, Imbissstuben, Restaurants, Souvenirläden und die Ladenstraße der Kupferschmiede durchquert hat, stößt man wieder auf ein Wahrzeichen des Krieges: auf das in der Habsburgerzeit 1894 erbaute Rathaus, das seit 1945 die Nationalbibliothek war; 1992 wurde es von 50 Granaten in Brand geschossen und die Asche der meisten einer Million Bücher flog durch die ganze Stadt. Mit österreichischer Hilfe wurde es wieder überdacht.

Minen - die

langlebigen Killer

Bei einem Besuch im "Mine Action Centre" im Kampus Univerziteta, der ehemaligen Marschall Tito-Kaserne, erfährt man, dass die Zahl der Landminen in Bosnien-Herzegowina auf über eine Million geschätzt wird, dass man aber erst die Hälfte der Minenfelder zu kennen glaubt. Für Tito-Jugoslawien war Bosnien-Herzegowina eine Art "Alpenfestung". Hier gab es die meisten Waffenfabriken und Waffenlager. Und die meisten Waffen der hier stationierten 50.000 Mann starken Bundesarmee gelangten in die Hände serbischer Ultra-Nationalisten. Minen und Sprengfallen sind langlebige Killer, die auch nach Jahren und Jahrzehnten jeden, der ihnen zu nahe kommt, verstümmeln oder töten. Zur Zeit fallen ihnen noch 17 Menschen pro Monat zum Opfer. Selbst die Minenkarte des Kampus zeigt noch verminte Gebäudeteile. Die Minen-Karte von Sarajevo mit Stand Juni 2003 zeigt mit unzähligen roten Punkten die noch immer verminte Umgebung. Und die von Bosnien-Herzegowina noch mehr rote verminte als blaue bereits geräumte Gegenden, wobei nicht der Hinweis fehlt, dass die nicht gekennzeichneten weißen Gebiete trotzdem mit Vorsicht zu betreten sind. Weshalb man den Rat erhält, auf asphaltierten Straßen zu bleiben und verlassene Dörfer oder beschädigte Gebäude nicht zu betreten.

Mostar - landesweites Brückensymbol

Nach 125 Straßenkilometern durch eine schöne, oft österreichisch anmutende Landschaft erreicht man von Sarajevo die Hauptstadt der Herzegowina, das mittelalterliche Mostar. Auch der islamische Teil der lange Zeit geteilten Stadt erlebte eine kleine Belagerung durch die Kroaten. Hier hat der Krieg noch mehr Spuren hinterlassen. Die bekannteste von ihnen ist die 1993 zerstörte alte Brücke, die seit 1566 allen Stürmen der Zeit standgehalten hatte. Jetzt können Einheimische und immer mehr Touristen auf einer Fußgängerbrücke die Neretva überqueren, gleich neben der Verschalung, die der Rekonstruktion der alten Brücke dienen soll. Doch mehr als die Widerlager-Stümpfe der alten Brücke sind noch nicht zu sehen.

Beides, das Provisorium und der Torso, werden zum Symbol für ganz Bosnien-Herzegowina. Zuerst wurden die Brücken zwischen den bisher friedlich zusammenlebenden Serben, Bosniaken und Kroaten abgebrochen und dabei viel Blut vergossen und Millionen von Haus und Hof vertrieben. Mit dem Dayton-Abkommen des Jahres 1995 wurden Behelfsbrücken zwischen den sich bisher Bekämpfenden errichtet, deren gefahrloses Überqueren die NATO als Brückenwächter "Mostar" gewährleistet. Auch das komplizierte Gerüst für eine dauerhafte Lösung mit einer Bosniakisch-kroatischen Föderation und einer Republika Srbska steht schon, doch eine so dauerhafte Verbindung wie durch die alte Brücke ist noch nicht zu sehen.

"Tolerancija" für eine bessere Zukunft ist auf den von der SFOR hergestellten Grußkarten zu lesen. Solange Konflikte mit Gewalt ausgetragen werden, kann Toleranz nicht gedeihen. 1992 konnten die 7.500 Mann der UNPROFOR, der "protection" versprechenden UNO-Truppe, weder die Belagerung von Sarajevo aufheben noch ein Massaker wie das von Srebrenica im Jahre 1995 verhindern. Das konnten erst die 60.000 Soldaten der IFOR, der Peace "Implementation Force" unter Führung der NATO, in einem Land mit 3,8 Millionen Einwohnern. Nebenbei bemerkt, lehrt ein Vergleich mit der Bevölkerung des Irak, dass man für den Frieden mehr Soldaten benötigen kann als für einen modernen Krieg.

Für mehr Toleranz sorgen in Bosnien-Herzegowina aber nicht nur die NATO, sondern auch KSZE, EU und zahlreiche NGO's mit ihren Hilfs- und Integrationsprogrammen. Es fehlt nicht an kleinen Fortschritten in diesem Staat aus zwei Staaten. Neben Ruinen sind immer mehr Neubauten zu sehen. Eine gemeinsame Flagge ist nur ein Symbol, wichtiger sind die gemeinsamen Autokennzeichen und schon für die Olympiade in Sidney gab es ein multiethnisches Team. Doch noch immer herrscht in der Politik ein ethnischer Proporz, nicht jede Wirtschaftshilfe landet an ihrem Bestimmungsort und die Arbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent. Ohne die vielen Nachhilfen wäre die Hausaufgabe der Toleranz noch nicht zu lösen. Aber Hausaufgabe bleibt die Überwindung eines bösartig gewordenen Ethnozentrismus, eines krankhaften Gruppenwahns, der aus Nachbarn Verfolger und Verfolgte machte. Ein langwieriger Prozess, über den sich die Europäer der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts nicht mokieren dürften, den aber die Europäer des beginnenden XXI. Jahrhunderts noch geduldig unterstützen sollten.

SFOR: Die seit 1997 20.000 Mann starke Stabilisation Force aus amerikanischen,
deutschen, englischen, französischen und italienischen Kontingenten.