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Noch viele Rätsel um Wallenberg

Von Inge Santner

Politik

Russland hat Freitag den schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg rehabilitiert, der im Zweiten Weltkrieg Tausende Juden vor dem Tod gerettet hatte und in der Sowjetunion lange als Spion verdächtigt worden war. Wallenberg sei ein Opfer der sowjetischen Gewaltherrschaft geworden.


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55 Jahre Leugnen und Lügen sind genug, meinte Alexander Jakowlew, Vorsitzender der russischen Kommission zur Rehabilitierung von Opfern politischer Repression. Es gelte, endlich einen Schlussstrich zu ziehen.

Gesagt, getan. In offenkundiger Absprache mit Präsident Wladimir Putin setzte Jakowlew gleich selbst zu diesem Schlussstrich an: Er gestand die Ermordung des schwedischen "Juden-Retters von Budapest" durch den sowjetischen Geheimdienst ein. Wallenberg sei 1945 nach dem Einmarsch der Sowjets auf ungarischem Boden verhaftet und im Juli 1947 in der Moskauer KGB-Zentrale erschossen worden.

Jakowlews Aussage war das erste volle Schuldbekenntnis aus dem Dunstkreis der russischen Führung. Vorher hatte sich der Kreml in immer neue Ausreden verstrickt, hatte zunächst die Existenz eines Häftlings namens Wallenberg vehement abgestritten und später stets behauptet, der 35-Jährige wäre am 11. Juli 1947 im Moskauer Ljubjanka-Gefängnis an Herzinfarkt gestorben, ganz von allein natürlich, ohne die geringste Nachhilfe seitens des Geheimdienstes.

800.000 vor Deportation

Begonnen hat alles mit dem 19. März 1944. Damals besetzten deutsche Truppen den Magyarenstaat, der zwar mit Hitler im Bund war, doch als unverlässlich galt. Ihnen auf dem Fuß folgte der Holocaust-Bürokrat Adolf Eichmann. Sein Auftrag: Das Land innerhalb einiger Monate "judenrein" zu machen. 800.000 ungarische Staatsbürger standen aus rassistischen Gründen vor der Deportation.

In dieser alarmierenden Situation konnten nur neutrale Nationen helfen. Deshalb suchte der amerikanische War Refugee Board (=Ausschuss für Kriegsflüchtlinge) nach einem schwedischen Mittelsmann zwecks Aufbau einer Budapester Auffangstation für bedrohte Juden. Sein Interesse konzentrierte sich auf Raoul Wallenberg, Jahrgang 1912, Sohn aus reicher Familie und Teilhaber der Mellaneuropeiska Handels AB mit engen Geschäftsbeziehungen zu Ungarn. Um seiner Mission einen offiziellen Anstrich zu geben, sollte der elegante junge Mann als Sekretär der Kgl. Schwedischen Gesandtschaft akkreditiert werden. Am 9. Juli 1944 traf der Laien-Diplomat in Budapest ein, ausgestattet mit 200.000 Kronen, einem Revolver und einer Liste von Schutzbefohlenen. Außer exzellenten Deutsch-Kenntnissen und etlichen Brocken ungarisch schien er recht wenig für seine heikle Aufgabe mitzubringen. Er hatte in Frankreich ein Semester Jus und in Amerika vier Jahre lang Architektur studiert, um schließlich im Geschäftsleben unterzutauchen, anfangs bei einer schwedischen Handelsfirma in Kapstadt, später bei der Holland-Bank in Haifa. Politische und organisatorische Erfahrungen fehlten ihm zur Gänze.

Schutzbriefe

Dennoch handelte er richtig. Um wenigstens einzelne Juden vor dem Zugriff der Nazis zu schützen, musste er sie einigermaßen glaubhaft unter die Patronanz seiner Regierung stellen. Daher entwarf er sogenannte Schutzbriefe im DIN A4-Format, die dank der schwedischen Farben gelb-blau und der drei Schweden-Kronen in der Mitte durchaus authentisch wirkten. Der zugehörige Text "bestätigte" auf Deutsch und Ungarisch, dass der Besitzer eines derartigen Zertifikates demnächst "im Rahmen der Repatriierung" nach Schweden reisen würde und bis dahin samt seiner Wohnung unter dem Schutz der Kgl. Schwedischen Gesandtschaft stünde.

In zähen Verhandlungen mit den Deutschen erreichte Wallenberg zunächst die Anerkennung von 5.000, dann von insgesamt 15.000 Schutzpässen. Für die Produktion und ordnungsgemäße Zustellung der lebensrettenden Papiere beschäftigte er etliche hundert jüdische Mitarbeiter. Einen Passantrag durfte jeder einreichen, der auch nur die entferntesten Beziehungen zu Schweden nachzuweisen vermochte, beispielsweise den Namen eines schwedischen Freundes oder zumindest irgendeines schwedischen Staatsbürgers parat hatte.

Wie Wallenberg oft noch im letzten Moment Menschenleben zu retten versuchte, schildert ein amerikanischer Fernsehfilm auf überaus dramatische Weise. Budapest Ostbahnhof. In wenigen Augenblicken wird ein Judentransport nach Auschwitz abgehen. Das SS-Kommando schickt sich gerade an, die Türen zu verriegeln. Da taucht im Laufschritt ein blonder Nordländer auf, gespielt vom "Dornenvögel"-Star Richard Chamberlain. Ohne das Abfahrtssignal zu beachten, klettert er aufs Dach eines Waggons, zieht ein Bündel Schutzpässe aus der Tasche und fängt mit der Verteilung an. Die SS-ler schreien, Eichmann wieselt nervös durch die Szene, erste Schüsse fallen. Doch der nordische Held ist nicht zu erschüttern. Ruhig und sorgfältig legt er Pass um Pass in die nach oben gestreckten Hände.....

Eichmann schachmatt

Ganz so hat es sich in Wahrheit natürlich nicht abgespielt. Immerhin stimmt, dass es Wallenberg schaffte, manchmal zehn, manchmal hundert Juden aus startbereiten Todeszügen zu holen. Dabei half ihm einerseits die Selbstsicherheit des gelernten Weltbürgers, andererseits der blinde deutsche Respekt vor Befehlen und Amtsstempeln. Sein scheinbar lässiges Auftreten setzte sogar Eichmann schachmatt.

Im November 1944, als sich die meisten Ausländer wegen der anrückenden Sowjettruppen Hals über Kopf aus der ungarischen Hauptstadt verabschiedeten, blieb Wallenberg freiwillig zurück. Mitten im Chaos der mordenden und plündernden Pfeilkreuzler-Horden arbeitete er weiter. Es gelang ihm, das Elend der berüchtigten jüdischen Todesmärsche Richtung Westen wenigstens teilweise zu lindern, indem er den Kolonnen nachfuhr und Lebensmittel, Schuhe, warme Kleidung verteilte. Auch mietete er 32 "Schwedenhäuser", in denen er 10.000 Juden unterbrachte.

Zum allerletzten Mal wurde Wallenberg am 17. Januar 1945 in Budapest gesehen. Eskortiert von drei sowjetischen Soldaten stoppte er überraschend vor einem der Schwedenhäuser. Aus dem Wagen auszusteigen, war ihm offenkundig verboten. Er sei auf dem Weg nach Debrecen ins Hauptquartier von Marschall Rodion Malinowski, erklärte er zwei herbeieilenden Mitarbeitern, Nachsatz: "Ob ich als Gast oder Gefangener dorthin fahre, weiß ich nicht."

Warum nur?

Zwar steht heute dank Jakowlew zweifelsfrei fest, dass die Sowjetführung den Tod des Schweden zu verantworten hat. Aber warum ließ sie Wallenberg verhaften, verschleppen, "liquidieren"? Sollte er für sie jüdisches Kapital flott machen? Erhoffte sich der KGB von ihm brisante Informationen über ungarische Politiker? Sah ihn der Paranoiker Stalin als Schlüsselfigur einer jüdischen Verschwörung?

Im Jänner 2001 wird eine eigens eingesetzte bilaterale russisch-schwedische Untersuchungs-Kommission ihren Abschlussbericht vorlegen. Angesicht der leergeräumten KGB-Archive wird sie freilich kaum Nennenswertes mitzuteilen haben.