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Norbert Leser

Von Eugen-Maria Schulak und Hermann Schlösser

Reflexionen

Der Sozialphilosoph und Politikwissenschafter Norbert Leser zieht an seinem 75. Geburtstag eine Bilanz seines wissenschaftlichen Lebens und plädiert für eine Veränderung der politischen Kultur


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Wiener Zeitung: Im kommenden August erscheint Ihr Buch "Der Sturz des Adlers. 120 Jahre österreichische Sozialdemokratie". Sie sind ja der Wissenschafter in Österreich, der sich zur Sozialdemokratie am prominentesten geäußert hat. Offenbar lässt Sie dieses Thema nicht los. Warum? Norbert Leser: Erstens einmal habe ich mit meiner Habilitationsschrift zu diesem Thema 1968 meinen akademischen Durchbruch an der Universität Graz erzielt. Zum ersten Mal habe ich die Geschichte der Sozialdemokratie politologisch, ideologiekritisch untersucht. Das ist dann mein Lebensthema geblieben - im Guten wie im Bösen. 20 Jahre später habe ich das Buch "Salz der Gesellschaft. Wesen und Wandel des Sozialismus" geschrieben, das vom Verkauf her mein erfolgreichstes Buch ist. Jetzt, nach wiederum 20 Jahren, wo sich das Leben am Höhepunkt befindet oder sich vielleicht auch schon dem Ende zuneigt, ziehe ich sozusagen die Summe meines bisherigen Werkes.

Nun haben Sie zur Sozialdemokratie ein sehr ambivalentes Verhältnis. Ist es diese Ambivalenz, die das Interesse wach hält?

Vielleicht bin ich auch familiär belastet. Mein Onkel, der eine Art Vaterfigur für mich war, war Landeshauptmann im Burgenland. Sie haben ganz richtig von Ambivalenz gesprochen; ich bin ein Zwilling, und stehe nicht nur der Sozialdemokratie, sondern allen Phänomen ambivalent gegenüber - auch mir selbst. Freud hat einmal gesagt: "Ambivalenz ist unser Schicksal." Freud hat diesen Begriff, der eigentlich von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler stammt, popularisiert. Gemeint ist damit das gleichzeitige Vorhandensein entgegengesetzter Gefühlsinhalte in Bezug auf dasselbe Objekt, also etwa Liebe und Hass, aber auch andere konträre Gefühle.

Und was denken die Sozialdemokraten über Sie?

Das dürfen Sie nicht mich fragen. Einige schätzen mich, zu meiner großen Überraschung hat Bundeskanzler Gusenbauer in einem jüngst erschienenen Interviewband gesagt, dass er von meinen Lehrveranstaltungen immer sehr angetan gewesen sei, dass ich sehr lustig und fasslich gesprochen hätte, und dass auch eine gute Diskussionskultur geherrscht hätte. Er sagt sogar, dass ich damals als liberaler Sozialdemokrat "noch satisfaktionsfähig" gewesen sei. Das ist die einzige Kritik, die bei ihm durchschimmert. Also, man respektiert mich, steht mir aber so ambivalent gegenüber wie ein Patient, der seinen Analytiker auf der einen Seite schätzt und braucht, der sich von ihm aber auch unangenehme Wahrheiten anhören muss.

Kritiker, die sich öffentlich äußern, werden in Parteien nicht sehr geschätzt.

Sie werden meistens ignoriert. Vielleicht ist es auch zuviel verlangt, dass jemand begeistert sein soll über eine Kritik, die von außen kommt. Es ist aber die Aufgabe des Wissenschafters, sich nicht nur von seinen Gefühlen leiten zu lassen, sondern auch eine gewisse Distanz einzulegen und zu versuchen, das Allgemeingültige aus einer Entwicklung herauszuarbeiten. Schon der Titel des Buches, das jetzt im Herbst erscheinen wird, hat einige Bezüge zur Parteigeschichte: "Der Sturz des Adlers" - damit ist zunächst einmal Viktor Adler, der Parteigründer, gemeint, dann aber auch die Verwandlung des Doppeladlers der Monarchie zum einfachen Adler der Republik und drittens der Adler aus "Brehms Tierleben", der in die Lüfte fliegt, eines schönen Tages Ermüdungserscheinungen zeigt und zum Schluss in einem Käfig landet - "große Koalition" genannt.

Wenn Sie bei einem platonischen Symposium zu Gast wären und die Aufgabe hieße dieses Mal nicht, den Eros zu loben, sondern die Sozialdemokratie - wie würde dieses Lob ausfallen?

Die Sozialdemokratie hat eine ganz große Leistung vollbracht, nämlich die Transformation vom liberalen Staat alter Prägung zum sozialen Staat. Das ist zweifellos ihr Verdienst, und außerdem hat sie in der Zwischenkriegszeit hunderttausenden von Menschen den Zugang zu den Glücksgütern des Lebens verschafft. Das Rote Wien mit seinen Gemeindebauten und seiner Wohlfahrtspolitik ist international tonangebend gewesen.

Aber Sie wissen schon, dass das moderne Wien bereits im liberalen 19. Jahrhundert entstanden ist .

Ja, die Prunkbauten, die uns heute noch erfreuen. Aber für die breite Masse ist erst durch die Gemeindebauten der Sprung aus der Bassena-Wohnung gelungen, und das ist eine historische Leistung, nicht? In der Zweiten Republik wurde dann eher verwaltet, da war der Schwung nicht mehr vorhanden, und was ich sehr beklage, das ist der Verfall der Standards in der Sozialdemokratie. Das gilt auch für die deutsche SPD.

Der Gleichheitsgedanke, der Sie offenbar fasziniert, ist aber doch gar nicht bis in die letzte Konsequenz realisierbar. Ist die Sozialdemokratie also am Ende angelangt, oder geht ihr Kampf immer weiter?

Im Godesberger Programm der SPD von 1959 heißt es, "die immerwährende Aufgabe" der Sozialdemokratie bestehe im Kampf gegen Privilegien. Aber dieser Kampf wurde nicht weitergeführt. Es gibt Führungskräfte, die sich glänzend selbst versorgen in einer Zeit, in der Millionen von Armut betroffen sind. Das ist ein Verrat an den alten Idealen. In Deutschland hat das schon zu der Konsequenz der Linkspartei geführt, in Österreich noch nicht, weil wir keine Galionsfigur wie Lafontaine haben. Aber wenn nicht die Grünen diese Aufgabe übernehmen, wird auch bei uns eine solche Partei entstehen, die sich gegen die Usurpation der Sozialdemokratie durch den Neoliberalismus wendet. Ich denke hier an Politiker wie Vranitzky oder eben Schröder in Deutschland, die diese Haltung am reinsten repräsentieren.

Sie halten diese beiden Politiker wirklich für Neoliberale?

Ja, weil sie vor allem ihre eigene Person und ihre engsten Mitarbeiter versorgen. Schröder etwa verantwortet die "Hartz"-Politik und sichert sich zugleich einen Traumvertrag im Schlaraffenland einer russischen Firma. Erscheinungen dieser Art erschüttern wesentlich die Glaubwürdigkeit. Auch ich bin nicht für absolute Gleichheit, aber zumindest für eine Verringerung des Unterschiedes in den Einkommen. Wenn das von der Spitze her konterkariert wird, so ist das die Aufforderung an alle, sich zu bereichern.

Bürokratien haben die Tendenz, zu wachsen. Viele Leute leben von staatlichen Einkünften und neigen dazu, den Staat als Beute zu betrachten. Ist das nicht eigentlich ein Element der Demokratie?

Wir leben in einer verrotteten Gesellschaft, die uns aber als solche nicht mehr zu Bewusstsein kommt, weil die Hemmschwellen sehr gering geworden sind und die Sanktionen auch. Das ist sehr bedenklich und trifft eine sozialdemokratische Partei stärker als eine bürgerliche, die nie den Anspruch erhoben hat, eine ganz neue Welt zu schaffen. Aber leider muss man sagen, dass die SPÖ heute nicht mehr sozialistisch ist und die ÖVP nicht mehr christlich oder christlich-sozial. Beide sind also ihrer Grundidee untreu geworden. Das ist bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich, aber es muss immer wieder ein Aufbegehren geben gegen die Tendenz, die alten Ideale über Bord zu werfen.

Welche Maßnahmen könnten denn diese "Verrottung", wie Sie es sehr streng nennen, korrigieren?

Ich glaube, ein wesentlicher Faktor wäre die Änderung des Wahlrechtes. Die Abgeordneten sollten sich ihren Wählern, und nicht nur ihrer Partei verantwortlich fühlen, sodass ein besseres Vertrauensverhältnis zwischen Wählern und Gewählten besteht. Das zweite wäre der Kampf gegen die Proporzwirtschaft, die natürlich in Zeiten großer Koalitionen besonders blüht. Die Mischung aus Pfründen, Protektion und Parteibuchwirtschaft zeitigt eben die genannten unguten Erscheinungen.

Nachdem Sie vorhin die schlechte Moral der Politiker beklagt haben, schlagen Sie jetzt strukturelle Maßnahmen zur Veränderung der Zustände vor. Warum sagen Sie nicht einfach, dass sich die Menschen bessern sollen?

Die Katholische Soziallehre, die ja viele Parallelen zum demokratischen Sozialismus aufweist, hat immer gesagt, dass Gesinnungs- und Zuständereform Hand in Hand gehen müssen. Zuständereform allein bleibt wirkungslos, Gesinnungsreform allein führt zu einer Privatisierung des Sozialen im Almosendenken. Nur beides zusammen macht eine Gesellschaft stark.

Damit ist die Brücke zum Katholizismus geschlagen: Sie sind Sozialdemokrat und Katholik zugleich. Wie verbinden Sie diese beiden Traditionen, die sich ja gerade in Österreich einmal sehr feindlich gegenüberstanden?

Vielleicht liegt meine Stärke darin, dass ich in zwei Bezugssystemen denke und deshalb nicht so betriebsblind bin wie diejenigen, die keine Alternative und keine Kombinationsmöglichkeiten haben.

Sie haben ein Buch über Gottesbeweise geschrieben, was für einen Philosophen ungewöhnlich ist. In diesem Buch bezeichnen Sie das Kreuz als das zentrale Symbol unserer Kultur. Welche Bedeutung hat das Kreuz für Sie?

Von Ernst Cassirer stammt die Definition des Menschen als "animal symbolicum". Es ist für mich einer der Indikatoren für die Wahrheit des Christentums, dass kein Symbol auf der Welt so verbreitet ist wie das Kreuz. Das ist kein Zufall. Die Idee des Gekreuzigten, der sich für die Menschheit aufopfert, übertrifft den Islam und alle anderen Religionen.

Aber vielleicht müssten wir ja weniger leiden, wenn uns das Kreuz von der christlichen Tradition nicht immer wieder umgehängt würde?

Das stimmt eben nicht! Wer auf sein Leben und auf das seiner Mitmenschen blickt, kann nicht guten Gewissens sagen, dass ihn das Kreuz nichts angehe. Jeder trägt sein Kreuz. Das Leiden ist eine Signatur der menschlichen Existenz. Alle politischen und aufklärerischen Versuche, das Leid aufzuheben, sind daran gescheitert, dass der Mensch eben leiden muss. Hierin treffe ich mich mit den Ideen von Viktor Frankl. Er hat schreckliches Leid erlebt, seine erste Frau und seine Eltern wurden im Konzentrationslager ermordet, und trotzdem hat er gesagt, dass die Leidvermeidung und das Glücksstreben um jeden Preis der Natur des Menschen widersprechen.

Es hat natürlich Entartungen wie die Leidensmystik gegeben, aber gerade Martin Luther hat den Gedanken formuliert, dass der Karfreitag der höchste Feiertag ist und dass der Ostersonntag schon einer transzendenten, künftigen Welt zuzurechnen ist. Das leuchtet mir ein - insofern bin ich auch stark von der protestantischen Theologie beeinflusst.

Da haben wir wieder einen Ihrer Brückenschläge, der Sie auch über die Grenzen der christlichen Konfessionen hinausträgt. Kennen Sie eigentlich den Vorwurf der Unzuverlässigkeit?

Natürlich, man begegnet ihm dauernd. Aber ich möchte hier eine Analogie herstellen, die vielleicht überraschend ist, aber für mich sehr überzeugend: Wir betrachten es heute zu Recht als furchtbar, dass es einmal eine Zeit gab, in der der Mensch danach beurteilt wurde, ob er arisch, Mischling ersten Grades oder zweiten Grades gewesen ist. Dagegen halten wir es immer noch für selbstverständlich, dass jemand ein Roter oder ein Schwarzer sein müsse. Ich bin politisch ein Mischling ersten Grades. Ich habe versucht, die wertvollen Elemente beider Traditionen nicht nur zu verstehen, sondern auch in mein Leben und mein Denken zu integrieren. Natürlich wird man dafür von beiden Seiten als nicht ganz dazugehörig betrachtet.

Ich habe mich Friedrich Heer immer sehr nahe gefühlt, und das hat auch auf Gegenseitigkeit beruht. Heer hat kurz vor seinem Tod im Organ des PEN-Club, dem wir beide angehört haben, einen sehr schönen Artikel über mich geschrieben, in dem er eine Verbindung zwischen sich und mir hergestellt hat. Er ist aus dem Katholizismus gekommen und eher nach links gewandert, ich komme aus der Sozialdemokratie und bin eher nach rechts gegangen. Allerdings erlebe ich gerade eine Renaissance meines linken Gedankengutes, wenn ich die Partei daran erinnern muss, dass sie den Gleichheitsgedanken - eine der Säulen der Sozialdemokratie - nicht unter den Tisch fallen lassen kann. Also man sieht, der Geist weht, wo er will.

Vor kurzem haben Sie in einem Artikel für die "Wiener Zeitung" Stefan George als Ihren Lieblingsdichter bezeichnet. Was reizt Sie an diesem Seher-Dichter, der weder sozialdemokratisch noch besonders katholisch gewesen ist?

Vielleicht das Männerbündlerische als soziologische Kategorie, die Romantik, die wunderschöne Sprache des Symbolismus. George wird zu Unrecht mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht, er hat die Nazis vollkommen abgelehnt und wollte ihretwegen nicht in deutscher Erde begraben sein. Sein Schüler Edgar Salin, Professor in Basel, hat mir einmal erzählt, dass Georges Jünger den toten Dichter bei Nacht und Nebel in Minusio bei Locarno begraben haben, damit der Leichnam nicht etwa gestohlen würde. Jeder hat einen Vers aufgesagt und einen Lorbeerzweig ins Grab gelegt. Dabei waren sie in Togas gehüllt. Das ist alles sehr romantisch, aber ich habe eine Schwäche für solche Inszenierungen. Das theatralische Element darf im Leben nicht zu kurz kommen.

Die Kunst spielt in Ihren politikwissenschaftlichen Schriften zwar keine große Rolle, aber offensichtlich ist sie Ihnen sehr wichtig.

Hegel sagt, dass Kunst und Religion die beiden Sphären sind, die unmittelbar bei Gott sind. Ich habe immer die Musik und die Literatur sehr geliebt. Auf meine alten Tage habe ich nun eine Kunstgattung entdeckt, die gar nicht auf meinem Lebensprogramm stand: Ich gehe sehr gern ins Konzertcafé Schmidt-Hansl hinter der Volksoper. Denn das Wienerlied besitzt eine durchaus philosophische Dimension, auch eine theologische. Der Herrgott, der Himmel, der Tod und der Wein kommen im Wienerlied häufiger vor als die Liebe. Das hat mich so fasziniert, dass ich sogar eine CD produziert habe, zusammen mit den Herren Luksch und Heger, die im Caféhaus regelmäßig auftreten. Ich habe dem Ganzen den Titel "in vino veritas" gegeben. Der Wein ist eine meiner Schwächen. Ich gebe zu, dass ich ihn sehr genieße, und ich glaube auch, dass er eine gewisse Beziehung zur Wahrheit hat. Von der Wahrheit kann man als Philosoph nie genug bekommen, und manchmal vom Wein auch nicht. Das soll keine Aufforderung zur Unmäßigkeit sein, aber wenn man beim Wein sitzt und das Wienerlied hört: "Wenn der Herrgott net will, nutzt des gar nix" - mehr kann einem ein Professor der Theologie auch nicht sagen.

Norbert Leser

Norbert Leser, ist am 31. Mai 1933 in Oberwart im Burgenland geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Soziologie an der Universität Wien und promovierte 1958 zum Dr. jur. 1969 wurde er an der Universität Graz für Rechts- und Staatsphilosophie habilitiert. Von 1971 bis 1980 lehrte er an der Universität Salzburg als erster Ordinarius für Politikwissenschaft in Österreich. 1980 kehrte er an die Universität Wien zurück, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2001 als Ordinarius für Gesellschaftsphilosophie tätig war. Ab 1984 leitete er das Ludwig Boltzmann-Institut für neuere österreichische Geistesgeschichte.

Norbert Leser ist PEN-Club-Mitglied und Träger zahlreicher Auszeichnungen. Unter anderem wurde er mit dem Dr. Karl Renner-Preis, dem Theodor Innitzer-Preis und dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse geehrt. 1992 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt. In der vergangenen Woche wurde ihm zum fünfzigjährigen Jubiläum seiner Dissertation das "Goldene Doktordiplom" der Universität Wien im Rahmen einer akademischen Feier verliehen.

Publikationen (kleine Auswahl):

Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis. Europaverlag, Wien/ Frankfurt/ Zürich 1968.

Salz der Gesellschaft. Wesen und Wandel des österreichischen Sozialismus. Orac, Wien 1988.

Gottes Türen und Fenster. Ein neuer Blick auf die Gottesbeweise. edition va bene, Wien 2001.

Im August 2008 erscheint: Der Sturz des Adlers. 120 Jahre österreichische Sozialdemokratie. Kremayr & Scheriau, Wien.