Niemand weiß, wie weit Pjöngjangs neuer starker Mann noch gehen wird.
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Pjöngjang/Seoul. Die Nordkorea-Politik der USA sieht sich dieser Tage schweren Prüfungen ausgesetzt. US-Analysten bezweifeln, dass das Konzept der "strategischen Geduld" angesichts eines Diktators, der keine Grenzen zu kennen scheint, taugt. Die Strategie des Setzens positiver Anreize im Gegenzug für Nordkoreas Verzicht auf Ausbau des Atomprogramms habe demnach nichts gebracht - außer Provokationen.
Die Kritiker des "weichen Weges" wurden am Mittwoch einmal mehr bestätigt. Der Norden sperrte den Zugang zum gemeinsamen Industriepark Kaesong an der innerkoreanischen Grenze. Mehr als hundert südkoreanische Arbeiter und Manager standen vor versperrter Tür; auf dem Areal befanden sich mehr als 800 Südkoreaner - sollten die nicht mehr ausreisen können, drohte Seoul damit, die Armee zu schicken.
Die Vorgangsweise ist nicht neu: Schon Kim Jong-uns Vater Kim Jong-il hat mit martialischer Rhetorik für Aufsehen gesorgt, eine Abnahme des Säbelrasselns wurde von den USA stets mit Zugeständnissen und Wirtschaftshilfe belohnt. "Jetzt laufen die Wetten, wann der Typ erkennt, wo die Grenzen sind", sagt ein US-Regierungsvertreter in Washington. Doch was geschieht, wenn der erst 30 Jahre alte Kim Jong-un keine Grenzen kennt? Der Diktator bricht jedes Tabu, weil er weiß, dass Washington an einer kriegerischen Auseinandersetzung nicht interessiert ist. 36.000 US-Amerikaner sind im Korea-Krieg 1950-53 gefallen, jetzt hat Washington 28.500 GIs im Süden stationiert - die will man nicht ins Gefecht schicken. Die nordkoreanische Armee gilt als schlecht ausgerüsteter Papiertiger, ein Angriff auf den Süden käme einem Himmelfahrtskommando gleich. Doch die Probe aufs Exempel wollen die USA nicht machen.
Neuer Tabubruch
Ohne eine nachdrückliche US-Reaktion bleibt unklar, wie weit Kim Jong-un geht. Bis jetzt war das reibungslose Funktionieren der Industriezone Kaesong für westliche Beobachter der Beweis dafür, dass es der Diktator mit seinen Kriegsdrohungen nicht ernst meint. Nordkorea hat hier einiges zu verlieren. Kaesong ist der einzige große Devisenbringer, der verarmte Norden erwirtschaftet mit dem Projekt rund 2 Milliarden US-Dollar im Jahr, 50.000 Nordkoreaner arbeiten hier. Doch nun ist klar, dass auch das nicht heilig ist.
Zudem herrscht unter Experten Uneinigkeit, was der Diktator mit seinen Kriegsdrohungen und Provokationen genau bezweckt. Klar ist, dass Kim bewusst einen Plan verfolgt. Dass der Machthaber unzurechnungsfähig ist, glaubt niemand. Wobei US-Regierungsbeamte zu bedenken geben, dass es über die über psychische Verfasstheit des neuen starken Mannes wenig Erfahrungswerte gibt.
Kims Vater Kim Jong-il war als Exzentriker bekannt - der Mann im Maolook weigerte sich bis zuletzt beharrlich, Flugzeuge zu besteigen und frönte einem bizarren Führer-Kult. Nach den jüngsten Eskapaden seines Sohnes ist man in den USA zur Ansicht gelangt, dass Vater Kim vergleichsweise berechenbar und diplomatisch war. Immer unverblümter und radikaler werden die Drohungen, vieles deutet darauf hin, dass der junge Kim die Strategie des "Irren von nebenan" fährt - nur noch viel extremer. Das wird als Versuch gedeutet, aus dem Schatten des Vaters zu treten, gegenüber der Generalität Stärke zu demonstrieren und ein eigenes Profil zu bekommen.
In der südkoreanischen Grenzstadt Paju standen am gestrigen Mittwoch jedenfalls mehr als hundert Arbeiter und Manager vor verschlossenen Schranken und warteten auf die Einreisegenehmigung nach Kaesong. "Das Vertrauen zwischen dem Norden und dem Süden bröckelt - auch bei den Kunden sinkt es", so Lee Eung Haeng, der eine Kleiderfabrik in Kaesong betreibt. In Lees Firma arbeiten 600 Nordkoreaner, die im Monat durchschnittlich 130 Dollar verdienen. Die nordkoreanischen Arbeiter hätten vermutlich schon geahnt, dass etwas im Argen liege, sagte der Südkoreaner Jang Sun Woo. "Sonst haben sie immer über meine Witze gelacht - diese Woche waren sie aber irgendwie anders."
Gestern gab es noch keine Hinweise darauf, dass Südkoreaner gegen ihren Willen in Kaesong festgehalten werden und die Armee, wie angedroht, militärisch eingreifen muss. Pjöngjang sicherte zu, dass die im Industriepark befindlichen Südkoreaner ausreisen dürfen. Seoul bestätigte, dass 36 Südkoreaner tatsächlich zurückkehrten. Viele Südkoreaner wollten das Gelände aber gar nicht verlassen, um den reibungslosen Ablauf des Betriebs nicht zu gefährden. Es gab gestern keine Anzeichen, dass das Leben in Kaesong zum Erliegen gekommen wäre, in den 123 Betrieben wurde am Mittwoch normal gearbeitet.