Suki Kim unterrichtete die Söhne der nordkoreanischen Elite. Ihr Buch wirft einen Blick auf eine verschlossene Welt.
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"Wiener Zeitung":Die Geschichte Nordkoreas ist auch Teil Ihres Familienerbes: Sie haben die amerikanische Staatsbürgerschaft, sind jedoch in Seoul aufgewachsen. Ihre Familie wurde während des Koreakriegs getrennt. Wie kam es dazu?
Suki Kim: Während der Bombenangriffe auf Seoul haben nordkoreanische Soldaten meine Cousinen verschleppt, wahrscheinlich, weil sie als herangehende Krankenschwestern nützlich waren. Das ist jedoch kein Einzelschicksal: Während des Kriegs wurden mehr als eine Million Familien getrennt. Meine Familie trauerte jahrzehntelang, in diesen Kummer wurde ich quasi hineingeboren. Mit 13 kam ich dann nach Amerika und habe als Jugendliche meine Heimat und meine Sprache verloren. Wieder fühlte ich diese Trennung, diesmal in meiner eigenen Geschichte.
2002 reisten Sie erstmals nach Nordkorea, um die Geburtstagsfeierlichkeiten von Kim Jong-il zu besichtigen. Konnten Sie damals hinter die inszenierte Fassade blicken?
Letztendlich war alles vom nordkoreanischen Regime orchestriert. Als ich 2008 wiederkam, um über ein Philharmonie-Konzert in Pjöngjang zu berichten, haben uns unsere Guides wieder genau die gleichen Sachen gezeigt - und auch immer wieder die gleichen Formulierungen wiederholt, ganz egal, welche Fragen wir gestellt haben. Später habe ich viele nordkoreanische Flüchtlinge in Südkorea und China interviewt. Letztendlich ist das aber auch nur ein Teil Nordkoreas, denn viele Flüchtlinge kommen vom unteren Ende der Gesellschaft. Mir wurde schnell klar: Um diesen Ort wirklich verstehen zu können, müsste ich wirklich länger in das Land hinein. Dann erfuhr ich, dass die Universität für Wissenschaft und Technik Pjöngjang (UWTP) Englischlehrer suchte.
Eine Google-Suche hätte gereicht, um Sie als verdeckte Autorin zu enttarnen. Wie konnten Sie die Stelle überhaupt bekommen?
Ich komme eher aus der literarischen Richtung, deshalb wurde ich nicht wirklich als Journalist wahrgenommen. Ebenso war ich bei keiner Redaktion angestellt. Das Visum habe ich vom Bildungsministerium erhalten - einer Behörde, die nichts zu tun hatte mit meinen vorigen Besuchen. Das System ist so stark untergliedert, dass ich letztlich damit durchkam. Allerdings habe ich niemals nachgefragt wieso.
Die UWTP wird von evangelikalen Missionaren aus dem Ausland geleitet. Dabei verfolgt kaum ein Land auf der Welt Christen stärker als Nordkorea. Wie passt das zusammen?
Tatsächlich kann man in Nordkorea für Missionierungen im Gulag landen. Aber die UWTP hat einen Pakt mit dem Regime geschlossen: Nordkorea lässt dort die Söhne seiner Elite ausbilden, ohne einen Cent zu zahlen. Die Uni wird ausschließlich von Spenden und Kirchengeldern finanziert. Offiziell hat sie bisher 35 Millionen Dollar gekostet, wobei man mit den Zahlen vorsichtig sein muss. Gleichzeitig ist es den Lehrern jedoch nicht erlaubt, offen über ihren Glauben zu sprechen. Die Studenten - übrigens allesamt männlich - hatten keinen blassen Schimmer, dass sie auf einer christlichen Uni sind.
Sie haben dort ein halbes Jahr lang Englisch unterrichtet. Wieso sind nordkoreanische Elite-Studenten so wissbegierig, die Muttersprache ihres Feindes zu lernen?
Das ist eine weitere Zweischneidigkeit. Praktisch niemand darf das Land verlassen, von daher habe ich mich natürlich auch gefragt, wo sie das Englisch überhaupt anwenden wollen. Letztendlich beweist jedoch allein die Existenz der Schule, dass das Regime die Notwendigkeit sieht, mit der Welt auf einer gewissen Ebene in Kontakt zu treten. Es ist fast ironisch: Nordkorea lässt seine zukünftige Elite von Ausländern ausbilden.
Ihr Herz klopfte, als Sie den Klassenraum betraten - aus Angst, einen Fehler zu begehen. Etwa in politische Konversationen verwickelt zu werden, oder Kim Jong-uns Namen ohne das Präfix "Großer Führer" zu verwenden. Wie verlief Ihre erste Unterrichtsstunde ab?
Sobald ich den Raum betrat, sind die Studenten aufgestanden und haben mir aufmerksam zugehört. Es war ein überaus schöner Moment, weil die jungen Männer dermaßen höflich und aufrichtig waren. Ich habe sie fast umgehend in mein Herz geschlossen, was mich selber überraschte. Auch wenn das alles 19- und 20-jährige Männer waren, hatten sie keine Ahnung von der Welt da draußen. Sie dachten etwa, die Leute im Ausland würden koreanisch sprechen. Als Informatikstudenten haben sie niemals über Steve Jobs oder Marc Zuckerberg gehört. Sie kannten nicht mal den Eiffelturm! Sie wirkten wie unberührt von der Welt. Es gab aber auch eine andere Seite: Erst nach Monaten fand ich heraus, dass sie ständig gelogen haben - auch über scheinbar sinnlose Kleinigkeiten.
Können Sie Beispiele nennen?
Es gab einen Kim Il-sung Lesesaal auf dem Campus, das war im Grunde wie eine Art Kirche. Der Saal wurde rund um die Uhr von Studenten bewacht, auch wenn draußen minus 20 Grad herrschten. Selber haben sie das jedoch niemals zugegeben, sogar nachdem ich sie dabei gesehen habe. Wahrscheinlich wurde ihnen gesagt, über solche Pflichten nicht zu reden. Auch durften sie niemals den Campus verlassen und trotzdem sagten sie mir ständig, sie würden regelmäßig mit ihren Eltern reden. Später fand ich heraus, dass das nicht stimmte.
Flüchtlinge berichten, dass ständiges Lügen Teil des Systems ist. Haben Sie einen ähnlichen Eindruck gewonnen?
Ja. Im Sommer trafen wir uns etwa oft draußen zu Ballspielen. Einmal rief ein Student, nachdem sein Team verloren hat: "Hätten wir doch nur besser geschummelt!" Ich dachte mir damals: Vielleicht ist Schummeln ja nichts Negatives hier. Lügen schienen dazugehören. Irgendwann begriff ich, dass ganz Nordkorea eine einzige Lüge ist: Alles, was sie über den Großen Führer lernen, sogar wann er geboren wurde, ist falsch. In den Geschichtsbüchern wird ihnen erzählt, dass es Südkorea und die USA waren, die Nordkorea im Koreakrieg angegriffen haben. Ihnen wird beigebracht, dass nordkoreanischen Wissenschafter eine Methode erfunden hätten, wie man die Blutgruppe von A zu B wechseln kann. Es war verrückt! Einmal wollte mir die ganze Klasse weismachen, dass man stärker wächst, wenn man regelmäßig Basketball spielt. Als Beweis diente ihr Lehrbuch.
Wie ein roter Faden zieht sich das Gefühl der Paranoia durch Ihr Buch. Sie waren sich nie sicher, wann Sie beobachtet wurden. Woran haben Sie das denn festgemacht?
In unserem Wohnheim wohnten im Erdgeschoß Aufseher. Ihr Job war es, rund um die Uhr auf uns aufzupassen. Unsere Telefonapparate, die nur zwischen den Lehrer-Zimmern funktionierten, wurden abgehört, denn stets waren unsere Aufseher auf dem Laufenden. Auch musste in der Schule jede einzelne Unterrichtseinheit genehmigt werden. Selbst vom Mittagessen haben die Studenten Berichte über die Konversationen geschrieben.
Dennoch fanden die Aufseher nicht die USB-Sticks, auf denen Sie jeden Abend Ihre Notizen festhielten.
Am Ende hatte ich so etwa 400 Seiten zusammengeschrieben. Das meiste davon waren schnörkellose Informationen, etwa worüber wir uns am Tag unterhalten haben. Die emotionaleren Momente speicherte ich versteckt in anderen Dokumenten, beispielsweise getarnt als Unterrichtsnotizen. Den USB-Stick habe ich die gesamte Zeit als Halskette bei mir getragen. Nach dem Schreiben habe ich jedes Mal alle Notizen vom Computer gelöscht.
Es gab auch brenzlige Momente: Einmal mussten Sie einem fragenden Studenten das System des Parlaments erklären. Ein anderes Mal lehrten sie die Vokabel: "to flee". In Ihrem Buch schreiben Sie an jener Stelle: "Ich hoffe, dass Sie alles vergessen haben und einfach Soldaten des Regimes werden." Wie meinen Sie das?
Mit der Zeit sorgte ich mich immer mehr um meine Studenten. Wir hockten schließlich gemeinsam in diesem militärisch bewachten Gelände, das wir nie verließen. Das schweißt zusammen. Ständig schwebte jedoch ein moralisches Dilemma mit: Einerseits wollte ich meinen Studenten, die damals noch nicht einmal vom Internet wussten, etwas von der Welt erzählen. So trug ich immer mein brandneues Macbook mit mir, auch wenn es gar nicht notwendig war. Und im Büro ließ ich während meiner Sprechstunden als Bildschirmschoner die Skyline von Manhattan aufscheinen - damit sie sehen, dass das, was ihr Land ihnen erzählt, alles Lügen sind. Aber was würde wirklich passieren, wenn sie an ihrem Großen Führer zweifeln?
Oft verbinden wir mit Studentenleben viel Freizeit, Selbstsuche, Feiern. Gibt es für die Studenten in Pjöngjang ein Äquivalent dazu?
Für andere Studenten in Nordkorea vielleicht, aber meine Zöglinge hatten das sicherlich nicht. Ihr Alltag war ja straff organisiert wie bei der Armee. Um 5.30 Uhr standen sie auf, denn jeder Tag fing mit Gruppenübungen und Propagandaliedern an. Am Abend haben sie manchmal im Gemeinschaftsraum ihres Wohnheims Fernsehen geschaut, doch letztlich handelt fast das gesamte Programm nur vom Großen Führer. Irgendwann kam heraus, dass einige von ihnen doch eine Freundin haben. Allerdings können sie kaum in Kontakt bleiben und die einzige gemeinsame Aktivität sind Spaziergänge am Fluss.
Nun haben Sie ein Buch über Ihre Erfahrungen veröffentlicht. Mit Ihrer Publikation riskieren Sie die weitere Existenz der Uni, möglicherweise könnten auch einige Ihrer ehemaligen Studenten Probleme bekommen. Wie rechtfertigen Sie das?
Klar fühle ich mich schrecklich, meine ehemaligen Kollegen derart hintergehen zu haben. Was die Studenten betrifft: Ich habe alle Details, die sie identifizierbar machen würden, geändert. Das war mein Weg, sie zu schützen. Das Ziel meines Buches ist es jedoch, die größere Wahrheit dieses schrecklichen Ortes, wo 25 Millionen Menschen als Geiseln gehalten werden, zu erzählen. Wenn wir diese Wahrheit nicht verbreiten, wird sich nichts an dem Status quo ändern.
Dies war Ihre fünfte Reise nach Nordkorea. Noch einmal werden Sie unter dem Regime wohl kein Visum bekomme.
Im Moment habe ich ohnehin kein großes Interesse wiederzukehren. Es hat sich ja seitdem auch nichts verändert! Alles, was ich über Nordkorea weiß und sagen wollte, steht in dem Buch.
Zur Person
Suki Kim
ist eine koreanisch amerikanische Schriftstellerin. Geboren wurde sie 1970 in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul und wurde für ihr Erstlingswerk "The Interpreter" mit dem Open Book Award des PEN-Clubs ausgezeichnet.