In Japan wächst die Angst vor einem nuklear bewaffneten Kommunistenregime an der Westflanke.
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Tokio/Pjöngjang. In einem kuriosen Werbevideo, das vor den Parlamentswahlen im Sommer 2009 auf YouTube zu kursieren begann, setzte die japanische "Glücksverwirklichungspartei" die mehrere Generationen alte Angst vieler Japaner vor Nordkorea in Bilder um. Bilder, von denen viele Menschen in Japan seit Nordkoreas drittem Atomtest gestern am 12. Februar 2013 hoffen, dass sie nichts weiter als die überbordende, sicherlich übertriebene Phantasie einer sektenartigen Mini-Partei bleiben.
Es beginnt harmlos: Japanische Zikaden veranstalteten ihr jährliches, ohrenbetäubendes Sommerkonzert, während in den Bürotürmen von Tokio die "Salarymen", die Angestellten, an ihren Schreibtischen schwitzten. Durch die Hitze dringt um 12.57 Uhr plötzlich eine Eilmeldung des japanischen Fernsehens: "Die Regierung meldet, dass von Nordkorea ein Flugobjekt abgeschossen wurde." Immer wieder ertönen zweistufige Warntöne, wie sie in Japan sonst meist für Erdbeben verwendet werden. Jeder ist darauf konditioniert.
Plötzlich bekommt die Sprecherin in der Live-Sendung eine neue Nachricht zugesteckt: "In der Stadt Osaka gab es eine Explosion!" Wieder ein Warnton: "Es ist kein Satellit, sondern eine Rakete!" Erneut piept es: "Es handelt sich um Nuklearwaffen!" Es folgt ein weiterer Einschlag in Nagoya. Dann entgleisen der Nachrichtensprecherin die Gesichtszüge: "Das dritte Ziel ist (.. .) Tokyo!" Chaos bricht im Büro aus, die Männer rennen durcheinander. Nur ein Angestellter sitzt wie hypnotisiert vor dem Fenster und blickt hinaus. Während der Fernsehbildschirm flackert und mit einem Mal schwarz wird, dringt von draußen das gleißend helle Licht einer Atombombenexplosion im Zentrum von Tokio ins Büro...
Auch wenn eine solche Eskalation nicht vorstellbar ist, so kommen den Zuschauern einige Elemente - ein Trägerraketentest, der als Satellitenabschuss verbrämt wurde, die Forschung zu Nuklearwaffen - durchaus bekannt vor. Denn erst am 12. Dezember 2012 hat Nordkorea unter seinem vor einem guten Jahr angetretenen Diktator Kim Jong-un eine Langstreckenträgerrakete getestet. Nach einem fehlgeschlagenen Test im April 2011, der dem Regime damals eine peinliche Breitseite verpasste, überraschte das Land mit einem anscheinend gelungenen Abschuss. Genaue Daten dazu werden weiterhin von USA analysiert.
Japans Premier Abe will nun sein Land aufrüsten
Mit dem Abschuss der Trägerrakete erfüllte Kim Jong-un den Willen seines Vaters Kim Jong-il, sagen viele Beobachter. Jetzt, kurz vor dessen Geburtstag am 16. Februar 2013, legte der 30-Jährige nach: Nordkorea führte in einem unterirdischen Testtrakt in etwa einem Kilometer Tiefe einen Atomtest durch - obwohl oder vielleicht gerade weil die internationale Gemeinschaft seit Wochen versucht hatte, das Land davon abzubringen. Denn gerade weil Nordkorea auf allen Seiten auf starken Widerstand stoße, stünden dort alle zusammen, glaubt Tadashi Kimiya, Korea-Experte von der Universität Tokio.
Die Angst, die dadurch im Nachbarland Japan geschürt wird, kommt einem Mann und seinem lange gehegten Wunsch zugute: dem japanischen Premierminister Shinzo Abe. Er wünscht sich seit vielen Jahren eine Änderung von Artikel 9 in Japans als pazifistisch bezeichneter Verfassung, die sein Land 1947 von den USA in der Zeit der Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg bekam. Darin wird Japan lediglich das Recht auf eine Selbstverteidigungsarmee zugesprochen. Wie weit ihre Befugnis reicht, war die letzten Jahre immer wieder Stein des Anstoßes. Junichiro Koizumi, der Japan als Premierminister von 2001 bis 2006 seinen Stempel aufdrückte, legte sie so weit aus, dass Japan die USA beim Betanken von Kriegsschiffen zu Zeiten des Irak-Krieges unterstützte. Abe will noch mehr: Japan soll wieder eine "richtige" Armee bekommen.
Schon in den Wochen vor Nordkoreas Atomtest kam das Thema in den japanischen Medien täglich und zur besten Sendezeit zur Sprache, weil China immer wieder Schiffe und Flugzeuge in Territorien um die Senkaku-Inselgruppe im Ostchinesischen Meer schickte, die Japan für sich beansprucht. China nennt sie Diayou. Doch damit nicht genug: Vor wenigen Tagen beschwerte sich Japan bei Russland, dass zwei Kampfjets seinen Luftraum verletzt hätten. Und jetzt noch der Atomtest in Nordkorea.
Dies könnte dazu führen, dass Abe bereits wider Erwarten vor den Oberhauswahlen in der dritten Juliwoche 2013, die als Test für seine Regierung angesehen werden, Farbe bekennt und die im Land durchaus umstrittene Verfassungsänderung mit einer erhofften Mehrheit für seine Liberaldemokratische Partei durchboxt. Im Oberhaus dominieren derzeit die Demokraten.
Wie er schon im Wahlkampf ankündigte, sucht Abe nun wieder verstärkt den Schulterschluss mit den USA, mit dem sein Land seit über 50 Jahren eine Sicherheitsallianz verbindet. Wenige Stunden nach Bekanntwerden des Tests traf sich Abe mit dem amerikanischen Botschafter in Japan, John V. Roos, um das gemeinsame Vorgehen zu besprechen.
Auch Präsident Barack Obama reagierte prompt und verurteilte den nordkoreanischen Atomtest scharf. Er mache Nordkorea nicht sicherer; auch seine Ziele, eine starke und wohlhabende Nation zu werden, erreiche das Land dadurch nicht. "Nordkorea hat sich stattdessen zunehmend selbst isoliert und seine Bürger in die Armut getrieben", kritisierte der US-Präsident.
In einer vorher abgegebenen Erklärung nannte er den Test einen "höchst provokativen Akt", der nach dem Abschuss der Trägerrakete im Dezember die regionale Stabilität unterminiere und Nordkoreas Verpflichtungen zu den Entschlüssen vieler Sicherheitsratstreffen verletze. Außerdem verletzte es Vereinbarungen, die bei "Sechsparteiengesprächen" 2005 getroffen worden seien. Eine Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen Nord- und Südkorea, China, den USA, Russland und Japan ist nun erneut im Gespräch.
Asien als wichtigster Fokus der US-Außenpolitik
Durch seine Solidaritätserklärung zu asiatischen Nationen stärkt Präsident Obama die Präsenz der USA in Asien und vor allem in Japan. Dort war die bilaterale Beziehung in den letzten Jahren angespannt. Zehntausende Einwohner von Okinawa, wo ein US-Stützpunkt ist, demonstrierten für die Verlegung. Ex-Premier Yukio Hatoyama sah sich aufgrund der Kontroverse 2010 zum Rücktritt gezwungen. Verletzungen, die Hatoyama und seine Nachfolger der japanisch-amerikanischen Allianz zugefügt hätten, will Abe nun heilen. Ex-Verteidigungsminister Satoshi Morimoto erklärte in einer Sondersendung des japanischen Hauptfernsehsenders NHK, dass Japan dadurch China gegenüber demonstrieren könne, dass Japan nicht alleine sei, sondern die USA an seiner Seite wisse. Damit spielte er auf den Senkaku-Konflikt an, der sich seit der Nationalisierung der Inseln seit vergangenem Sommer zugespitzt hatte.
Den USA kommt ein stärkeres Engagement in Asien ebenfalls entgegen, da es im Rahmen seiner neuen politischen Strategie des "Middle-East-Disengagements", also des Rückzugs aus dem Mittleren Osten, seinen Schwerpunkt verlegen will.
Als Verlierer der jüngsten Atomtests gilt das Land, das vor kurzem die USA als größte Handelsnation ablöste: China. Die Nation ist aufgrund des Regierungswechsels im vergangenen Herbst weiter in einer sensiblen Übergangsphase. Dass es China als wichtigster Handelspartner von Nordkorea es nicht schafft, genügend Druck auf Pjöngjang auszuüben, die Atomtests zu unterlassen, gilt vielen Beobachtern als Schwäche.
Pekings Führung im Dilemma
Es befindet sich in einer Zwickmühle: Einerseits hat es den Status eines Freundes von Nordkorea; andererseits musste es als vorsitzendes Land der Sechsparteien-Gespräche auch Stärke gegenüber Nordkorea demonstrieren, hat jedoch gleichzeitig Angst, die angespannte Sicherheitslage in Ostasien weiter zu verschärfen.
Schon in seiner Neujahrsansprache wandte sich der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un indirekt gegen den bisherigen Haupthandelspartner, indem es um Südkorea als Partner warb. Am 25. Februar wird Park Geun-hye in Seoul als erste Präsidentin den bisherigen Amtsinhaber Lee Myung-bak ablösen. Während seiner Amtszeit verschlechterte sich die Beziehung zum Norden. Park schien, bevor es zu dem Atomtest kam, einen versöhnlicheren Kurs einschlagen zu wollen. Professor Tadashi Kimiya (Universität Tokio) empfiehlt Park Geun-hye eine Politik der Bindung ("engagement policy"). Diese solle sie so lange weiterführen, zum Beispiel bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, bis Nordkorea nicht mehr ohne Südkorea auskomme.
Der japanische Journalist Jiro Ishimaru, der immer wieder Informationen aus dem verschlossenen Land schafft, glaubt, dass sich Nordkorea vom Einfluss Chinas freikämpfen will und sich deswegen nach anderen Partnern umsieht. Denn Nordkorea ist sehr abhängig von Chinas Energie- und Lebensmittellieferungen und sieht sich bei den Verhandlungen unter Druck gesetzt. Nordkoreas eigene Wirtschaft sei fast zum Erliegen gekommen. Schätzungen Ishimarus zufolge stehen etwa 80 Prozent der Fabriken still. Abseits von der unter dem Einfluss von Kim Jong-un herausgeputzten Hauptstadt gehe es den Menschen weiterhin schlecht. Seine Informanten berichteten regelmäßig von Hungersnöten in ländlichen Gebieten und einzelnen Fällen von Kannibalismus die Rede.
Schon bei den vorherigen Atomtests hatte das Ausland versucht, gegenüber Nordkorea eine Drohkulisse aufzubauen. Bisher ohne Erfolg. In einem akut einberufenen Treffen des UN-Sicherheitsrates wurden am Dienstag weitere Sanktionen erörtert, denen sich Pjöngjang seit dem Test der Trägerrakete erneut ausgesetzt sah. In den USA wird erwägt, Nordkorea in den Status eines "Terrorismus-Unterstützers" zu setzen, um entsprechend schärfere Maßnahmen einzuleiten.