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Tel Aviv bleibt gelassen, Konflikt stellt arabische Staatsbürger vor schwieriges Dilemma.
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Tel Aviv. "Es ist gut, dass auch in Tel Aviv Raketen fallen", sagt ein Friseur im Zentrum von Tel Aviv, der eine Autostunde außerhalb der israelischen Mittelmeermetropole lebt. "Jetzt wachen die Leute hier wenigstens einmal auf." Die Stadt Tel Aviv trägt nicht umsonst den Spitznamen "Die Blase". Während israelische Luftangriffe 70 Kilometer südlich den Gazastreifen in ein Kriegsgebiet verwandeln und Raketenangriffe den Süden Israels in den Ausnahmezustand versetzen, schien das Leben hier trotz wiederholter Alarmsirenen relativ ungehemmt voranzuschreiten.
"Das Verrückte ist, dass wir das gewohnt sind", meinte Ori, ein israelischer Ladenbesitzer in Tel Aviv. "Die Eskalationen wiederholen sich. Ein, zwei Wochen, danach haben wir alles wieder vergessen." Auf seinem Mobiltelefon zeigt er ein Foto, dass ihm ein Freund aus der Nähe Jerusalems geschickt hat. Darauf ist ein mit kleinen Löchern übersätes Auto zu sehen, das offenbar von Raketensplittern beschädigt wurde.
Drei Stunden, nachdem Raketen über dem Ballungsgebiet abgefangen wurden, füllten am Dienstagabend tausende Fußballfans die Restaurants und Bars der Stadt. Doch es war nicht schwer, dabei die Risse im Trugbild von Normalität zu orten. Zumindest in der Halbzeit zeigten die Leinwände statt Fußball Krieg: Live-Bilder aus israelischen Städten und dem Gazastreifen, Raketeneinschläge, Bombardements. "Bitte gebt uns eine Waffenruhe. Auch wir wollen die Weltmeisterschaft schauen", twitterte die Jugendbewegung Gaza Youth Breaks Out (GYBO). Darunter eine Grafik, die eine Rauchsäule in der Form des Weltmeisterschaftspokals zeigt. Soll heißen: Gaza ist nicht Tel Aviv.
Solange der palästinensische Raketenbeschuss nicht endet, will die israelische Regierung die Militäroperation weiterhin ausweiten. Neben den üblichen Kurstreckenraketen setzt die Hamas erstmals auch Raketen mit einer Reichweite von rund 130 Kilometern ein. Man habe keine andere Wahl, als mit eiserner Faust zu agieren, heißt es in Israel. Es ist ein Teufelskreis, dessen Preis vor allem die Zivilbevölkerung zahlt.
Rund eine Minute haben die Bewohner von Tel Aviv nach ertönen einer Alarmsirene, um sich in die Stiegenhäuser zu flüchten oder an die Nordseite einer nahegelegenen Hausfassade zu drücken. Jedoch war bereits mehrmals nur die von einer Druckwelle begleitete, dumpfe Explosion von Raketen in der Luft zu hören, ohne dass davor eine Sirene läutete. Werden sehr viele Raketen aus dem Gazastreifen zeitgleich in unterschiedliche Richtungen gefeuert, stößt auch das Alarmsystem an seine Grenzen. Raketen mit Kurs auf die Großregion Tel Aviv konnten bisher erfolgreich abgefangen werden.
"Gott sei Dank haben wir dieses Abwehrsystem", meint Uri zur sogenannten "Eisernen Kuppel". Das System berechnet per Radar automatisch den Einschlagsort, woraufhin ein Kontrollzentrum entscheidet, ob der Angriff mit einer oder mehreren der 22.000 Euro teuren Abwehrraketen abgefangen wird. Israel spricht von einer 90-prozentigen Erfolgsrate der "Kuppel".
Die Zivilbevölkerung im Gazastreifen kann sich jedoch weder auf Alarmsirenen noch auf Abwehrsysteme verlassen. Sie sind die großen Verlierer einer Eskalation zwischen Israel und der Hamas, in der beide Seiten im Namen des "Widerstands" versuchen, der jeweils anderen maximalen Schaden zuzufügen.
Gratwanderung
Doch während sich im Gazastreifen keine Israelis aufhalten, sind 17 Prozent der israelischen Staatsbürger palästinensische Araber. Sie stehen bei der derzeitigen Gewalteskalation zwischen den Palästinensern in den von Israel besetzten Gebieten und den jüdischen Israelis, mit denen sie ihren Alltag teilen.
"Ich lebe einen Widerspruch", mein Faris, der am mondänen Rothschild-Boulevard in Tel Aviv in einem Software-Start-up arbeitet. Während Familie und Freunde in seiner Heimatstadt Sakhnin in Nordisrael mit Protesten auf die Straße ziehen, um ihrer Solidarität mit Gaza und der Kritik gegen Rassismus und Diskriminierung Ausdruck zu verleihen, programmiert er in Tel Aviv und sitzt vier Stunden am Tag neben jüdischen Israelis im Zug. "Dieser Widerspruch zwischen dem, was ich tue, und dem, woran ich glaube, macht mich zu einer gespaltenen Persönlichkeit. Ich höre die Alarmsirenen und realisiere, dass diese Raketen auch mich treffen können, einen Palästinenser", sagt Faris. Die Realität in Israel-Palästina ist offenbar komplizierter, als es die Hamas und das israelische Militär gerne darstellen.
Am täglichen Weg in die Arbeit fühlt sich Faris zunehmend provoziert. Am Dienstag habe er auf Arabisch telefoniert, woraufhin ein Soldat neben ihm lautstark ein Propaganda-Video des ultra-nationalistischen Parlamentariers Michael Ben Ari abspielte. Der Lauf des Maschinengewehrs seines Sitznachbarn habe dabei die ganze Fahrt über in seine Richtung gezeigt. "In diesen Tagen zeigt sich die Gesellschaft von ihrer extremistische Seite", sagt er. "Das Problem ist, für Israelis ist Gaza die Hamas und ein Feind. Ich sehe dort auch Familien, Armut und Kinder."
An einer Baustelle in Tel Aviv erzählen die arabischen Arbeiter Zaher und Fadi aus Nordisrael, dass sie sich morgens gemeinsam mit den jüdischen Kollegen vor den Raketen in den Keller flüchten mussten. Man komme gut miteinander aus, sagen sie. Wie der Großteil der Bevölkerung auf beiden Seiten des Konflikts wollen sie vor allem eines: in Ruhe leben. "Sie sollen einfach aufhören. Israel und die Hamas. Wir wollen unser Geld verdienen, wollen einfach nur Frieden."