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Wir leben in einer "Du wie du"-Gleichmacher-Gesellschaft, gleichzeitig polarisieren sich Persönlichkeiten.
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Die schrecklichen Ereignisse, wie sie sich in Norwegen ereigneten, sind wieder ein Anstoß über Wege und Irrwege unserer Jugendkultur nachzudenken, um diese so zu reflektieren, dass man derartige Katastrophen bereits von den Ursachen der Entwicklung her erkennt und ihnen wirksam entgegenwirken kann, damit solche Wahnsinnstaten gar nicht in den Köpfen labiler Charaktere entstehen können.
Beginnt man wertfrei mit der reflektierenden Analyse, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir in einer säkularisierten und nivellierten Gesellschaft leben. Fakt ist, dass sich eine besondere Form der Gleichheit, geprägt durch den Götzen Konsum in unserer Gesellschaft durchsetzt. Ein Hauch einer eigenartigen Schizophrenie liegt über dem Lande, die nach Identitätsstörung riecht.
Die Form der kollektiven Identitätsstörung regt vorerst keinen auf, kommt es jedoch zur Konfrontation von Face-to-face, dann entsteht so etwas, wie eine mentale Kernschmelze, die man mit aller Kraft verhindern will. Die Angst vor einer mentalen Implosion ist vorerst nur unbewusst, bekommt aber durch Stimulation von Außen eine besondere Brisanz, die sich dadurch auswirkt, dass man das Gefühl, hat in seinem sinnentleerten Selbst zu versinken. Ohne Ferndiagnosen stellen zu wollen, was die Ereignisse in Norwegen betrifft, kann man ein Phänomen bei Terroranschlägen oder Amokläufen immer wieder beobachten, dass trotz der Optionen einer offenen globalen Kommunikationsgesellschaft, das Erleben der Isolation und grenzenlosen Einsamkeit zur nicht oder zu wenig beachteten Nebenwirkung wird, die dann wenn die Katastrophe geschieht, alle gewaltig erschüttert.
Den eigenen Mangel an Identitätsstärke mit dem starken Glauben an fundamentalistische Religionen oder Ideologien auszugleichen, dieser Prozess ist in der Geschichte immer wieder zu beobachten. Im zeithistorischen Rückblick einer dunklen Vergangenheit könnte man verstehen, dass die Menschen aus einem generellen Mangel den Verführern folgten, um dann gemeinsam in den Untergang zu gehen. Wie kann heutzutage, wo zumindest in der westlichen Hemisphäre weitgehend nicht nur Wohlstand, sondern oft auch Überfluss an materiellen Gütern herrscht, so ein Aggressionsakt gegen die eigene Gesellschaft geschehen? Das Thema ist die paradoxe Polarität einer durch die Medien inszenierte Individualisierung bei gleichzeitiger Prägung in Richtung Kollektivierung einer grenzenlosen Konsumgesellschaft.
Gerade Jugendliche, die mit besonderer Sensibilität ausgestattet nach ihrem Ich suchen, kommen unter diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in die Krise und suchen nach Auswegen aus diesem auf Dauer untragbaren Dilemma. Ventile werden gesucht, denn Verdrängen ist auf Dauer nicht möglich. Vorlagen für Reaktionen halten die Medien jederzeit bereit. Man kann sogar legal, wenn man will, Szenarien im wahrsten Sinne im Netz durchspielen. Einer Selbstsuggestion gleich geraten gerade gewisse Persönlichkeitstypen durch das als Ritual empfundene Spiel in einen selbstwertstärkenden Ausnahmezustand.
Franz Witzeling ist Sozialpsychologe und Psychotherapeut. Er leitet das Wiener Humaninstitut.