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Nostalgie bis in den Tod

Von Bruno Jaschke

Reflexionen

Die Beach Boys feiern, mit Brian Wilson an Bord, ein unverhohlen vergangenheitsseliges Platten-Comeback - und unterstreichen just damit, was für eine große Band sie waren.


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Ständig finde ich mich in der Position, die Beach Boys verteidigen zu müssen. Ein an sich intelligenter Berufskollege erklärte kürzlich, die Beach Boys seien für ihn ungefähr dasselbe wie Hansi Hinterseer. Er ist klassischer Musikfan. Aber auch weite Teile der Pop-Klientel urteilen ähnlich wegwerfend.

Die Beach Boys anno 2012 - mit Brian Wilson, der am 20. Juni 70 Jahre alt wird, in der Mitte.
© © EMI

Das hat soziologische und demografische Gründe. Die Bekanntschaft mit dem Werk der Beach Boys beschränkt sich weitgehend auf meine Generation oder noch älter, also 50 plus; die Jüngeren kennen sie allenfalls per Namen. Eine Durchdringung mehrerer Generationen wie bei Elvis Presley, den Beatles oder Rolling Stones hat bei den Beach Boys nicht stattgefunden. Ihre Fans sind - zumindest hierzulande - Zeitgenossen wie der Cartoonist Manfred Deix, und in den USA Musiker wie Animal Collective, die Fleet Foxes, die Ramones oder die Flaming Lips.

Die großteils eher bescheidene Wertschätzung der Beach Boys unter den Musikkonsumenten spiegelt eine bestimmte, zeitlich in den 60ern und frühen 70ern verankerte popmusikalische Sozialisation wieder. Zum einen symbolisierten sie im Unterschied zu den Stones, selbst den Beatles oder den Byrds, in adretter Aufmachung Gesellschaftskonformität und "heile Welt".

Zum anderen pflegten sie, abseits des Instrumentalvirtuosen-Kults, etwa rund um Ginger Baker oder Jimi Hendrix, einen Musikstil, der von der damals tonangebenden Progressiv-Rock-Liga schnell mit dem Totschlag-Argument "Kommerz" geächtet wurde: des viel- und in sich stimmigen Pop-Songs. Dass die Beach Boys mit der menschlichen Stimme, dem demokratischsten aller Instrumente, ihrerseits Virtuosen waren, unterlief die Wahrnehmungsschwelle dieser Klientel.

Distanz zum Frühwerk

Ich war übrigens auch nie ein großer Beach Boys-Fan. Natürlich habe ich immer das Genie ihres Songschreibers und Produzenten Brian Wilson bewundert. Aber von den vier großen "B"s der Pop-Geschichte habe ich die Beach Boys stets den Beatles, Byrds und Big Star hintangestellt. Die Beatles, die ihnen von der Anlage der Musik her am ehesten vergleichbar waren, hatten für mein Empfinden die zwingenderen Songs; die Byrds hatten mehr Verve - und Big Star hatten Alex Chilton. Den Beach Boys bin ich eigentlich erst auf Berufswegen näher gekommen. Ähnlich wie bei Dylan zwang mich einfach ihr Stellenwert zur intensiveren Auseinandersetzung, zum Nachholen versäumter Hausaufgaben, zum Wiederhören und Neu-Bewerten. Labour Of Love gewissermaßen, heute durch das Internet erheblich erleichtert.

Ihr Frühwerk mit all seinen erfolgreichen Surfer-Hymnen hält mich allerdings - einzelne und eher atypische Songs wie "In My Room" ausgenommen - immer noch auf Distanz. Ihr angeblich revolutionäres "Meisterwerk" "Pet Sounds" halte ich (ebenso wie Gerald Schmickl) für überschätzt. "Smiley Smile", das aus Fragmenten der erst 2004 als Brian Wilson-Album und 2011 als BBs-Box Set veröffentlichten "Smile"-Suite zusammengestoppelt wurde, ist dagegen tatsächlich wunderbar. Ähnlich grandios zwischen Spinnigkeit und Versponnenheit laviert "Surf’s Up" von 1971; nach "Holland" und "Sail On Sailor", dem letzten Brian Wilson-Klassiker, war der Ofen aber aus.

Danach wurden die Beach Boys - ohne Brian, der sich immer mehr und in den 1980ern dann gänzlich zurückzog - zu Nachlassverwaltern ihrer selbst, holten mit Tourneen, Hit-Kompilationen und äußerst mäßigen Neuaufnahmen aus dem Markt, was eben zu holen war, und gefielen sich daneben - auf Betreiben ihres sehr einfach gestrickten Sängers Mike Love - als Repräsentanten eines reaktionären Amerika und Wahlwerber republikanischer Präsidentschaftskandidaten.

1997 erklärte mir Sean O’Hagan, Kopf des exzellenten Surfer-Electronica-Ensembles High Llamas, warum er das ehrenvolle Angebot, die Beach Boys zu produzieren, in den Wind schlug: "Bruce Johnston (der in den 60ern mit Brian Wilsons Rückzug von Tour-Aktivitäten in die Band hineingewachsen war, Anm.) sagte, er wollte endlich wieder einmal etwas künstlerisch Großes machen. Aber wenn die Beach Boys eine Platte machen, dann beruht das auf strategischer Planung und einem Kompromiss zwischen den Mitgliedern. Ich wusste das, daher war mir auch klar, dass es eine verrückte Idee war, dass ich denen sagen sollte, okay, versammeln wir uns um das Piano und machen wir das Nachfolgealbum von ,Pet Sounds‘ Jahrgang ’97. Und ich wollte keine Fußnote der Beach Boys-Geschichte werden. Ich meine, ich liebe die Beach Boys, ich liebe ,Smile‘ und ihr Vermächtnis. Aber die Leute, die das gemacht haben, sind nicht dieselben wie jene, die sie jetzt sind. Das sind 55-jährige Leute, die Michael Bolton mögen. Kann man mit so jemandem arbeiten? Nein, kann man nicht. Also habe ich’s bleiben lassen."

Heute sind die Beach Boys alle um die 70 und mögen noch wesentlich schlimmere Leute als Michael Bolton: George W. Bush zum Beispiel, Ex-Präsident der USA. So weit, so abschreckend.

Stoff für Legenden

2008 habe ich Brian Wilson in der Oper gesehen. Der ist einerseits seit Jahrzehnten kein Beach Boy mehr - und ist es andererseits mehr als jeder andere. Darum wurde sein Auftritt zur Zeremonie. Begleitet von einer kompetenten Band mit einem geschätztem Durchschnittsalter von 61 Jahren, die alle Harmoniegesänge perfekt reproduzierte, saß er an einem Keyboard, das er während des Auftritts kaum bespielte und revitalisierte das Beach Boys-Repertoire: Von "Musts" wie "Good Vibrations" oder "Barbara Ann" über Perlen wie "In My Room" bis zu "Good Only Knows", in welcher Nummer "Pet Sounds" tatsächlich seinem Ruf entspricht.

Dass der Höhepunkt des Abends dann übrigens "Love and Mercy" war, der Opener von Wilsons erstem Solo-Album von 1988, war eine nette Ironie nebenher. Die Hauptsache war die schiere Präsenz des Mannes am Keyboard. Da begann die Geschichte zu funkeln.

Grundsätzlich gibt die Biografie der Beach Boys viel Stoff für große Legenden her. Es beginnt klassisch mit der problematischen Kindheit, welche die Brüder Brian, Carl und Dennis Wilson mit ihrem gewalttätigen Vater Murry erlebten. Brians Taubheit auf einem Ohr - und in der Folge seine Tendenz, monofon zu produzieren - war die Folge der Schläge des rabiaten Altvorderen.

Brian Wilson selbst ist eine bilderbuchhafte Inkarnation des wahnsinnigen Genies. In die Folklore eingegangen sind sein quälender Perfektionismus als Produzent, sein exorbitanter Drogenkonsum, seine Paranoia, die Geschichte vom Sandhaufen, den er sich zur Inspiration ins Wohnzimmer aufschütten ließ, und dass er monatelang sein Haus in L.A. nicht verließ.

Ein identifikationstaugliches Role Model wie Jim Morrison ist Brian Wilson allerdings nicht. Das liegt nicht allein an seinem Übergewicht, das ihm - angeblich durch eine Hormonstörung verursacht - früh das Leben vergällte. Von wirklich großen Pop-Helden wird auch ein gewisses intellektuelles Format gefordert. Brian Wilson liest keine Bücher (meistens brauchte er ja auch Textautoren wie den großartigen Van Dyke Parks für seine Kompositionen). Er scheint kaum Interessen zu haben; selbst musikalische Entwicklungen bekommt er nur lückenhaft mit. Einzig im Studio wird er zu dem instinktsicheren, phantasiebegabten Zauberer, als der er die sprichwörtlichen musikalischen Maßstäbe gesetzt hat.

Neben Brian Wilson haben die Beach Boys noch einen weiteren Heroen für die Mythologie, nämlich seinen Bruder Dennis. Er war der Einzige der Wilson-Brüder, der tatsächlich surfte. Auf seinen Erfahrungen basieren denn auch Brians frühe Songs. Denny war der Sonny Boy und Frauenliebling der Band, profilierte sich aber auch als Musiker: Ursprünglich Schlagzeuger, wuchs er zum Multi-Instrumentalisten, Sänger und vor allem zu einer Fixkraft als Songschreiber heran. Er schrieb den Text zum Welthit "You Are So Beautiful". Sein Blues- und Soul-infiltriertes Solo-Album "Pacific Ocean Blue" von 1977 kombiniert sich mit dem wilden Lebensstil, dem Dennis ab Mitte der 60er Jahre frönte, zu Kultstatus. Er hatte kurzfristig Kontakt zum Mehrfach-Mörder Charles Manson, war fünf Mal verheiratet, hatte sechs Kinder, nahm Drogen en masse und hatte bis zum bitteren Ende ein weiches Herz für harte Getränke. Ende 1983 starb er 39-jährig bei einem Tauchunfall.

Die Strahlkraft Brians und Dennis’ überdeckt ein wenig den dritten und jüngsten Wilson-Bruder Carl: Paradoxerweise war er von den dreien der markanteste ausführende Teil - und mit seiner Gitarre überhaupt die einzige ins-trumentale Fixkraft der Beach Boys. Seine kreative Stunde schlug mit dem Album "Surf’s Up", dessen Hauptproduzent er ist. Nie mit genügend Egomanie ausgestattet, sich dauerhaft im Rampenlicht behaupten zu wollen, wurde er später wieder ins zweite Glied zurückversetzt. Er starb im Februar 1998 an Lungenkrebs. Brian, dem man am wenigsten Chancen gegeben hätte, ist somit der einzige Überlebende der Wilson-Brüder.

Hommage ans Radio

2012 haben sich Brian und die Beach Boys wieder zusammengerauft, um auf Welt-Tournee zu gehen (ohne Österreich-Termin bisher) und eine neue Platte aufzunehmen: "That’s Why God Made The Radio" (bei EMI erschienen). Was für ein Vollbad in ergreifender Retrospektive!

Wer käme heute noch auf die Idee, dem Radio, dem uncoolsten aller Medien, eine Hymne mit den Ausdrucksmitteln von Seinerzeit zu widmen!? Mit Falsettchören, die wie Bienenschwärme herumschwirren und eine schamlos sentimentale Melodie abfedern, die wie jede gute Nostalgie gleichzeitig bessere Zeiten heraufbeschwört und unterschwellig Wehmut spüren lässt. Good vibration, California, Sunsets over the ocean - vertraute Reizworte, die eine Vergangenheitsseligkeit unterstreichen, die sich für rein gar nichts geniert - und gut daran tut.

Letztlich holt allerdings die Zeit und damit die Realität die Rückschau ein: Im Schlussstück, "Summer’s Gone", das wie die Fortsetzung des melancholisch-zukunftspessimistischen Doors-Songs "Summer’s Almost Gone" anmutet, heißt es: "The nights grow cold, it’s time to go". Am Ende tut sich also erneut die Vergangenheit auf - als finaler Fluchtpunkt: "We live, we die, we dream about our yesterday".

Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und ist ständiger Mitarbeiter der "extra"-"music"-Seite.

Website The Beach Boys