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Notausgang für soziale Härtefälle

Von Doris Griesser

Wissen

Mehr Selbstmorde bei wenig Bildung und ohne Beschäftigung. | Höheres Risiko für ältere Menschen, vor allem Männer, die auf dem Land leben. | Graz. Gemeinsam mit psychischen und somatischen Erkrankungen erhöhen vor allem soziale Faktoren wie geringe Bildung und niedriges Einkommen das Suizid-risiko. Das konnte der Grazer Soziologe Carlos Watzka in einer mit dem steirischen Forschungspreis 2008 ausgezeichneten Studie nachweisen.


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Mit rund 1500 Selbsttötungen pro Jahr nimmt Österreich nach wie vor einen Spitzenplatz auf der europäischen Suizid-Rankingliste ein. Besonders hoch sind die Suizidraten trotz rückläufiger Tendenz in der Steiermark. Ein Umstand, der Carlos Watzka zu einer umfangreichen Analyse dieses Phänomens veranlasste.

Wichtigstes Ergebnis seiner Studie: Die Ursachen für die erhöhte Suizidrate sind vor allem in der ungünstigen Sozialstruktur zu suchen, die in den überdurchschnittlich betroffenen Bezirken Liezen, Murau, Leoben oder Mürzzuschlag zum Tragen kommt. Was heißt das konkret? "Bezirke, in denen etwa die Schulbildung und das Einkommen eher niedrig sind, weisen höhere Suizidraten auf", so Carlos Watzka. Eine brisante Erkenntnis, die für den mitteleuropäischen Raum erstmals wissenschaftlich belegt werden konnte.

Zwar wurde bereits in früheren Forschungsarbeiten ein deutlicher Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und erhöhten Suizidraten festgestellt, doch mit seiner multifaktoriellen Analyse, in die neben Einkommen, Geschlecht, Alter und Erwerbstätigkeit u. a. auch Bildungsniveau, Beruf, Wohn- und Familienverhältnisse, Staatsangehörigkeit oder das Angebot an psycho-sozialen Einrichtungen in der Umgebung einbezogen wurden, hat der Soziologe wissenschaftliches Neuland betreten.

Besonders suizidgefährdet ist laut Studie die Gruppe der Beschäftigungslosen, die neben Arbeitslosen auch Notstandshilfeempfänger und nicht arbeitslos gemeldete Menschen im erwerbsfähigen Alter umfasst. "In dieser Bevölkerungsgruppe ist die Suizidrate nahezu fünfmal so hoch wie jene der Erwerbstätigen", berichtet Watzka.

Land- und Forstwirte besonders gefährdet

Aber auch Lohnarbeit wirkt dann nicht präventiv, wenn das Einkommen sehr niedrig ist: So hatte etwa die Hälfte aller Suizidenten einen Lohn unter dem Medianeinkommen, über ein Viertel verdiente weniger als 900 Euro brutto. Generell, fand Watzka heraus, sind Arbeiter sehr viel häufiger Suizidopfer als Angestellte. Aufgegliedert nach Berufsgruppen haben Land- und Forstwirte die höchste Suizidrate, gefolgt von Medizinern und Sicherheitskräften (Polizei u.a.).

Als weiteren Suizid-Risikofaktor konnte Watzka auch ein niedriges Bildungsniveau nachweisen: so haben Bezirke mit größerem Maturanten- und Akademikeranteil niedrigere Suizidraten, deutlich unter dem Durchschnitt liegt dementsprechend auch die Zahl der Selbsttötungen unter Hochschulabsolventen.

Entgegen landläufiger Vorurteile wirkt sich offenbar auch ein urbanes Umfeld positiv auf die Suizidrate aus: Während sich in der Steiermark jährlich 22 von 100.000 Menschen das Leben nehmen, sind es in Wien 17. "Zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit waren die Städte tatsächlich noch die Suizid-Herde´", so Carlos Watzka. "Mittlerweile scheint aber das verstärkte psychosoziale Betreuungsangebot in den Ballungszentren zu greifen, eine wirksame Suizidprävention, die in den ländlichen Gebieten noch ausgebaut werden müsste."

Da drei Viertel aller Suizidopfer Männer sind - wobei die Raten mit dem Alter dramatisch ansteigen -, seien auch dringend geschlechts- und altersspezifische Präventionsmaßnahmen gefordert.

Auch eine verbesserte Aufklärung über Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen könnte viele Suizide vermeiden: Immerhin gehen Fachleute davon aus, dass an die 90 Prozent aller Selbsttötungen mit einer Depression zusammenhängen. Positiv auf die Suizid-raten wirkt sich übrigens ein höherer Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung aus.

Buchtipp: Carlos Watzka: "Sozialstruktur und Suizid in Österreich". Verlag für Sozialwissenschaften, 417 Seiten, 51,30 Euro.