Dynamisch soll er sein und äußerst machtbewusst, ein Politiker weit eher als ein sich nur aufs Geistliche beschränkender Mönch: Geht es nach den Stimmen von Beobachtern, steht der russisch-orthodoxen Kirche mit der Wahl des 62 Jahre jungen Kirill I. zum Patriarchen eine Art russischer Johannes Paul II. ins Haus. | Der bisherige Metropolit von Smolensk und Kaliningrad übte bereits seit dem Tod des Vorgängers Alexi II. im Dezember interimistisch das Patriarchenamt aus. Überraschend ist vor allem das Ergebnis für den durchaus nicht unumstrittenen Pragmatiker: 508 Stimmen erhielt Kirill, dessen Gegenkandidat, der ultraorthodoxe Metropolit Kliment von Kaluga und Borowsk, kam nur auf 169 Unterstützer. Die Wahl des verstorbenen Alexi II. im Juni 1990 war deutlich knapper ausgefallen. Das eindeutige Votum für den Reformer Kirill ist neben dem Wunsch nach moderater Modernisierung auch auf Segen von oben zurückzuführen: Premier Wladimir Putin und Präsident Dmitri Medwedew hatten Kirill öffentlich unterstützt, er dominierte auch die Berichterstattung im staatlichen Fernsehen. Bei der Wahl sind auch Laienvertreter stimmberechtigt.
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Ein Politiker als Oberhaupt ist für die russische Orthodoxie ein Novum. Die Zeitung "Wlast" mutmaßt, mit Kirill an der Spitze müsse die Kirche nicht länger "Gegenstand von Manipulationen des Staates" sein. Denn der Staat war seiner Kirche nicht immer wohlgesonnen: Schon Peter der Große schaffte im Zuge seiner Modernisierungspolitik kurzerhand das Patriarchat ab und ersetzte es durch ein Gremium. Unter den Bolschewiki wurden Geistliche brutal verfolgt, an Altarwände gekreuzigt, mit kochendem Pech überbrüht und in Eislöchern ertränkt. Über 300.000 von ihnen wurden ermordet.
Seit dem Ende der Sowjetunion hat sich das Verhältnis freilich rasch wieder eingerenkt und gilt heute als weitgehend friktionsfrei. Ex-Präsident Putin persönlich war es auch, der die Wiedervereinigung der Kirche mit der russisch-orthodoxen Auslandskirche patronierte und leitete. Die in byzantinische Zeit zurückreichende Idee der "symphonia", des harmonischen Zusammenspiels zwischen Staat, Nation und Kirche, lebt im heutigen Russland wieder auf. Ein solches Konzept, das Glaube, Nation und Territorium verbindet, lässt wenig Platz für Vorstellungen individueller Glaubensentscheidung: Die Missionsarbeit der katholischen Kirche in Russland wurde unter Alexi II. heftig als Abwerbung "eigentlich orthodoxer" Gläubiger kritisiert. Seit Papst Benedikt XVI., ein Kenner und Freund der Orthodoxie, in Rom sitzt, hat sich das Verhältnis allerdings entspannt. Auch der neue Patriarch Kirill gilt als Mann des Dialogs: Auf sein Betreiben hin übernahm die russische Kirche eine von Benedikt als Kardinal verfasste Sozialenzyklika. Ein allzu aktiver Kirill könnte freilich den Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomaios I., in der Orthodoxie an den Rand drängen.
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