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Nur die Alten bleiben

Von Siobhán Geets aus Straseni

Politik

Auf der Suche nach Arbeit verlassen junge Menschen in Scharen die Republik Moldau. Übrig bleiben Kinder und Alte.


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Straseni. Das Haus, in dem Tudor Stavuta lebt, sieht aus, als könnte es jede Sekunde zusammenbrechen. Risse spalten die Außenmauern, drinnen hängt die Decke durch - es wäre ein Wunder, würde sie dem nächsten Schnee standhalten. An der Wand über dem Bett klebt ein Kalender von 2014 mit dem Bild der Mutter Gottes; gegen die Feuchtigkeit hat Stravuta Linoleum über den Lehmboden gelegt.

Stravutas kleine Hütte befindet sich im moldawischen Dorf Galesti im Bezirk Straseni, eine Autostunde entfernt von der Hauptstadt Chisinau. Stravuta ist 69 Jahre alt, sieht aber deutlich älter aus. Eine Kindheit im Waisenhaus, drei Jahre bei der Armee, Lastwagenfahrer in Kasachstan - das harte Leben hat seine Gesichtszüge gezeichnet. Der Witwer sitzt in seinem kleinen Zimmer, im Ofen neben dem Bett brennt Feuer, es ist einer der ersten richtig kalten Herbsttage. Fließendes Wasser hat Stravuta - wie 96 Prozent der Landbevölkerung - keines, dafür muss er die Straße entlang zum Brunnen gehen. Heute erledigt das Team der Mobilen Heimhilfe das für ihn. Andrej und Viorika besuchen den alten Mann einmal in der Woche, sie messen seinen Blutdruck, bringen frische Wäsche und helfen ihm beim Waschen und Rasieren.

Ärzte verdienen rund 80 Euro

Die NGO "Asociatia Neoumanist" ist die lokale Partnerorganisation von "Brot für die Welt" (Diakonie), die rund 40 alte Menschen im Bezirk Straseni unterstützt und ein kleines Seniorenheim mit 20 Betten sowie ein Tageszentrum betreibt. Die Sozialarbeiter bringen auch eine Wochenration Nahrungsmittel - überlebensnotwendig für Stravuta. Er bekommt lediglich sechs Euro Mindestsicherung, weil er keine Dokumente über seine Arbeitserfahrungen im Ausland vorweisen kann. Seine Kinder sind ihm keine Hilfe, drei sind in die Ukraine ausgewandert und melden sich nicht, eine Tochter lebt zwar in der Gegend, hat aber selbst fünf Kinder und kämpft ums Überleben.

Ohne NGOs wie "Neoumanist" würden viele Alte wie Stravuta den Winter nicht überstehen. Die Republik Moldau mit seinen rund dreieinhalb Millionen Einwohnern ist das ärmste Land Europas. Wer kann, versucht sein Geld anderswo zu verdienen: als Altenpflegerin in der EU, als Facharbeiter in Italien oder als Bauarbeiter in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei lediglich 1800 Euro pro Kopf, junge Menschen verlassen in Scharen das Land. Viele beantragen einen rumänischen Pass - das ist zwar ein teures und aufwendiges Unterfangen, lässt aber auf Arbeit in der EU hoffen.

Übrig bleiben die Kinder - und alte Menschen wie Stravuta. "Der Staat tut nichts, um Arbeitsplätze für junge Menschen zu schaffen", sagt Veronica Timbalari von der NGO "Asociatia Neoumanist". Selbst fertig ausgebildete Ärzte verdienen lediglich rund 80 Euro im Monat - viele ziehen es vor, für ein Vielfaches im Ausland zu arbeiten, sei es auch nur in einer Hotelküche. Zum Vergleich: Die Kosten, um einen Monat lang eine kleine Wohnung zu beheizen, belaufen sich auf rund 120 Euro.

"Nur die Alten bleiben", sagt Timbalari, "es ist ein langsam sterbendes Land." Staatliche Institutionen, die soziale Hilfe anbieten, beschränken sich auf Krankenhäuser und Ambulanzen und kosten außerdem Geld - ein unmöglicher Luxus für Menschen wie Stravuta. Zwar gibt es auch staatliche Altenheime, doch sie haben einen sehr schlechten Ruf und nehmen nur Menschen auf, die keine Kinder haben. "Deshalb", erklärt Timbalari, "entscheiden sich viele für ein Leben in Armut in den eigenen vier Wänden." Auf die Frage, ob er ins Seniorenheim der NGO will, zögert Stravuta - zu lebhaft sind die Erinnerungen an das Waisenhaus in der damaligen Sowjetunion, zu stark die Abneigung gegen jede Art von Institution. Ansehen will er es sich aber doch, wenn auch nur für einen Tag.

Die Einsamkeit nagt an dem alten Mann. Sein einziger Luxus, seine einzige Verbindung zur Außenwelt, ist ein Radiogerät. Es versorgt ihn mit Informationen über die Demonstrationen in der Hauptstadt Chisinau - und lässt ihn hoffen, dass sich bald etwas zum Besseren ändert.

Alltag unter der Armutsgrenze

Maria Petrova hat das Schlimmste hinter sich. Die 82-Jährige sitzt unter der Laube im Garten des NGO-betriebenen Seniorenheims "Spectru" und erzählt aus ihrem Leben. Schon als Kind arbeitete sie am Feld, später in der Schweinezucht eines Heims für geistig Kranke. Drei ihrer vier Kinder sind über Europa und Russland verstreut, ein Sohn lebt noch in Moldau. Mit seinen vier Kindern war er vor einigen Jahren bei ihr eingezogen, doch sie konnte ihn nicht unterstützen, das Geld reichte kaum für sie selbst. Wenig später erblindete die alte Frau, das Haus verfiel, und Ratten machten sich breit. Das Team der Mobilen Heimhilfe konnte Petrova schließlich überzeugen, ins Altenheim nach Straseni zu ziehen.

Erinnert sich Petrova an das Ende der Sowjetunion, ist da hauptsächlich Angst. "Wir fürchteten uns vor einem neuen Krieg", sagt die alte Frau. Im Kommunismus sei das Leben einfacher gewesen, Nahrung und Kleidung waren billiger. Heute sind die Pensionen gering - und die Preise hoch. 35 Prozent der Alten in Moldawien leben unter der Armutsgrenze, die Durchschnittspension liegt bei 35 bis 50 Euro im Monat. Deshalb bietet die NGO an, Alte direkt zu unterstützen. "Adopt a Granny" (Adoptiere eine Oma) heißt das Projekt. Für 28 Euro im Monat kann man einem Pensionisten in Moldawien unter die Arme greifen.

Das österreichische Sozialministerium und Brot für die Welt (die Auslandshilfe der Diakonie) unterstützen die "Asociatia Neoumanist" mit rund 50.000 Euro jährlich. Die NGO betreibt neben dem Altenheim "Spectru" (Regenbogen) ein mobiles Heimhilfeprojekt für rund 40 Pflegebedürftige im Bezirk Straseni. Etwa 250 Pensionisten besuchen jährlich das Tageszentrum "Rasarit" (der Sonnenaufgang) in Straseni. Täglich kommen 30 bis 40 Menschen für eine warme Mahlzeit, zudem können sie ihre Wäsche waschen und sich duschen. Bei der Handarbeit, beim Spielen, Tanzen und Singen kommen sie in Kontakt mit anderen.

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