Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei, das zeigt auch die Corona-Entwicklung im winterlichen Südamerika. Im Herbst droht erneut eine Welle, die aber eine ganz andere Art der Herausforderung darstellt. Ein Ausblick.
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Das Coronavirus zeigt sich aktuell gnädiger als das Wetter. Die Zahl der Neuinfektionen war dann auch zeitgerecht zum Öffnungstag am 19. Mai so niedrig wie seit Herbst nicht mehr. Das nimmt dem Kaffee im Café und dem Bier im Biergarten doch deutlich das Risiko. Der saisonale Effekt schlägt derzeit in Österreich voll durch. Warum das so ist, ist allerdings noch ein Rätsel. Wärme und Sonne kann es gegenwärtig kaum sein, und vom Herdenschutz ist man noch weit entfernt.
Auch wenn sich zuletzt das Impftempo erhöht hat, erwarten Experten nicht, dass in diesem Jahr ein ausreichend hoher Anteil der Bevölkerung immunisiert sein wird, um die Virusverbreitung effektiv zu unterbinden. Dazu kommt, dass infektiösere Varianten die Latte für die Herdenimmunität höher legen. Je ansteckender ein Virus ist, desto mehr Menschen müssen immun sein, um die epidemische Verbreitung zu stoppen.
Der Herbst dürfte in Sachen Corona-Management daher erneut eine Herausforderung werden, wie auch eine rezente Modellierung eines internationalen Forscherteams zeigt. Thomas Czypionka, Gesundheitsökonom des Instituts für Höhere Studien, ist einer der Autoren. Durch die Impfungen haben sich die Rahmenbedingungen zwar geändert, doch Verwaltung und Politik müssen jedenfalls vorbereitet sein, ist eine Empfehlung der Forscher. Aktuell ist das auch auf der Südhalbkugel zu beobachten. Obwohl Chile bereits fast die Hälfte der Bevölkerung geimpft hat, steigen dort seit Wochen die Fallzahlen durchaus dramatisch, ebenso in Uruguay, Argentinien und nun auch in Südafrika.
Fakt ist aber: Ein substanzieller Teil der Bevölkerung wird im Herbst immun sein, das war vor einem Jahr noch ganz anders. Ein noch größerer Teil wird zumindest Schutz vor einer schweren Erkrankung aufweisen, womit das Gesundheitssystem nicht so schnell überlastet werden wird. Andererseits werden eben auch die Kontaktbeschränkungen, die im Vorjahr ab September sukzessive verschärft wurden, nicht mehr zu erwarten sein. Wer geimpft oder genesen ist, soll ja ein weitgehend normales Leben führen können. Das sind die Versprechungen und Planungen der Politik mit dem Grünen Pass.
Schutzwirkung der Impfung ist nicht bei allen vorhanden
Die Forscher errechneten diverse Szenarien mit mehr oder weniger strengen Restriktionen für Personen mit und ohne Grünem Pass, also immune und nicht immune Personen. Der Sukkus ist, dass zunächst Nicht-Geimpfte durch die Aufhebung des Lockdowns das Infektionsgeschehen antreiben, wobei Österreich durch die Zutrittstests dieses Risiko noch zu senken versucht. Langfristig werden laut dem Modell die Geimpften zum Treiber der Pandemie und es wird erneut zu einer Phase der Hochinzidenz kommen. Und zwar selbst bei optimistischen Annahmen.
Grund dafür ist, dass die derzeitigen Impfungen zwar einen guten Schutz vor Erkrankung, aber nur einen bedingten vor Infektion bieten. Im Laufe der Zeit schwinden die Antikörper, Geimpfte werden dann vielfach zu Virusverbreitern, weil sie durch den Grünen Pass auch Zugang zu jenen heiklen Orten haben, in denen es leicht zu Ansteckungen kommen kann, in Fitnesscentern, Konzerthallen und Diskotheken - Orte, die monatelang geschlossen waren.
"Wir können nicht alle wirksam impfen", sagt Thomas Czypionka. Zur Gruppe der Impfunwilligen und jener, die nicht geimpft werden kann, kommt eine nicht so kleine Gruppe hinzu, bei der die Schutzimpfung aus diversen Gründen nicht oder nur wenig wirkt. Das können sehr alte Menschen sein, Personen mit chronischen Erkrankungen oder Organtransplantierte, die Medikamente nehmen, um das Immunsystem zu unterdrücken. Der Grüne Pass, so Czypionka, richte sich nicht nach tatsächlicher Immunität, sondern nach dem Impf- oder dem Genesungsstatus. "Ein variabel großer Prozentsatz ist aber dennoch nicht geschützt."
Es ist noch unsicher, wie lange der Schutz hält. Wahrscheinlich ist, dass es große individuelle Unterschiede geben wird. Alles deutet darauf hin, dass der zelluläre Schutz, der vor Erkrankung bewahrt, generell länger Bestand hat als die Antikörper. Das ist die gute Nachricht. Sie birgt aber auch die Gefahr, dass ein Teil des Infektionsgeschehens länger unentdeckt bleibt. Es war schon bisher eine der unangenehmen Eigenschaften des Coronavirus, dass asymptomatische Wirte häufig zu Überträgern wurden. Eine quasi unsichtbare Verbreitung des Virus erschwert die Steuerung für die Politik.
"Man wird auch ein Auge auf die Geimpften haben müssen und sollte sie nicht gänzlich von Tests ausschließen", sagt Czypionka. Auch repräsentative Screenings oder Testreihen in spezifischen Populationen könnten den Behörden Aufschluss über das Infektionsgeschehen geben. Eine andere Option sind Untersuchungen des Abwassers, das schon jetzt regelmäßig auf Virenreste analysiert wird. Der Verwaltung stehen jedenfalls etliche Mittel zur Überwachung der Pandemie zur Verfügung.
Ohne Lockdown wird die Grippe zurückkehren
Auch die Entwicklung der Influenza, also der normalen Grippe, muss von der Politik beachtet werden. Czypionka erwartet durch die Corona-Impfungen zwar eine deutlich geringere Belastung der Intensivstationen durch Covid-19-Patienten, selbst wenn es zu einer größeren Winter-Welle kommt. Doch ohne Lockdown wird sich im Winter auch die Influenza wieder verbreiten - vielleicht sogar stärker. "Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es in der kommenden Saison zu einer besonders ausgeprägten Influenza-Saison kommt", heißt es aus dem Gesundheitsministerium, das 300.000 Dosen an Influenza-Impfstoff für ein kostenloses Kinderimpfprogramm und weitere 100.000 Dosen für Pflegeheime bestellt hat.
Im Corona-Management war das oberste Ziel der Bundesregierung stets die Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems. Der Ausfall der Grippe-Saison in diesem Winter hat dabei entscheidend geholfen, denn normalerweise kommt es fast jedes Jahr regional zu Überlastungen, wenn auch nur kurzfristig. Sollte also die Erwartung der Fachleute eintreten, dass Österreich eine starke Grippe-Saison erlebt, gäbe es nicht viel Puffer für eine gleichzeitige Covid-Welle.
Czypionka plädiert auch dafür, sich gewisse nicht-pharmazeutische Maßnahmen vorzubehalten, wie etwa das Tragen von FFP2-Masken im öffentlichen Verkehr, sollte das Infektionsgeschehen merklich zunehmen. Das verursacht wenig Aufwand, würde aber auch gegen die Verbreitung der Influenza helfen, wie dieser Winter eindrucksvoll gezeigt hat.
Für Politik und Verwaltung wird es aber auch entscheidend sein, dafür zu sorgen, dass der Corona-Immunitätsschutz bei den Impfwilligen möglichst hoch bleibt, um das Risiko von Infektionen durch schwindende Antikörper möglichst gering zu halten. Haben alle ihre zweite Impfung bekommen? Wann braucht es Auffrischungen? Benötigen Alte und immunschwache Personen vielleicht sogar eine vierte Impfung?
Auch gesellschaftlich könnte der Herbst eine Herausforderung werden. Zur Erfahrung der Pandemie gehört auch, dass selbst scheinbar sorgloses Verhalten, sei es das Treffen von Jugendlichen im öffentlichen Raum oder eine Warteschlange vor einem Lift, zu sehr aufgeregten Reaktionen und Medienberichten geführt hat. Wie wird die Gesellschaft reagieren, wenn das Erkrankungsgeschehen von jenen geprägt wird, die sich nicht impfen wollten? Wenn es deshalb zu Überlastungen in den Spitälern kommt? Auch für die Politik wäre das heikel. Kann sie in so einem Fall noch einmal einen Lockdown verhängen? In Argentinien passierte jetzt genau das. Schulen, Lokale und Fitnessstudios mussten aufgrund der Entwicklung schließen. Allerdings haben dort noch lange nicht alle, die wollten, eine Impfung angeboten bekommen. Das wird im Winter in Österreich anders sein.