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Nur geduldet im Brexit-Land

Von Uwe Schütte

Reflexionen
Nur resistent Anglophile wollen nicht wahrhaben, in welche Bredouille sich die Briten selbstverschuldet manövriert haben.
© Getty Images

Erfahrungen eines Gasteuropäers im englischen Königreich. Ein Abgesang auf die Anglophilie.


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Die Anglophilie scheint unausrottbar. Das ist auch nicht erstaunlich, denn unser Phantasiekonstrukt "England" ist eine flexible Kombination verschiedener kultureller Phänomene und Vorstellungen. Am wichtigsten natürlich ist die englische Sprache: Nahezu jeder spricht sie - und man kann sich damit auf der ganzen Welt verständigen. Dass sie den gesamten Schatz an angloamerikanischen Filmen und Literatur eröffnet, ist ein unschlagbarer Pluspunkt. Für viele ebenso entscheidend ist die englischsprachige Musik und Popkultur, die viele Sehnsuchtsräume eröffnet.

Andere mögen es weniger urban: die einsamen Weiten Schottlands, die rollenden Hügel von Kent oder die malerischen Dörfer der Cotswolds beeindrucken in ihrer traumhaften Schönheit. Dass freilich das schwarz-weiße London der Edgar-Wallace-Filme nichts mehr mit den unzumutbaren Zuständen in der heutigen Metropole zu tun hat, dürfte jeder Besucher der Stadt schnell bemerken. Aber immerhin bleibt einem noch, sich fettige Fish & Chips zu bestellen, dazu entweder ein randvolles Glas mit lauwarmem Ale oder süßstoffgesättigtem Cider, um sich anglophile Wunschträume zu erfüllen.

Ignoranz der Jungen

Das unerträgliche Schmierentheater der letzten drei Jahre um den Brexit sollte jedoch alle Englandträumer ordentlich aufgerüttelt haben, die sich bisher als resistent gegen die britische Realität erwiesen haben. In aller Konsequenz und bis zur Schmerzgrenze (wenn nicht darüber hinaus) zeigt sich im unverantwortlichen Taktieren um den Ausstieg aus der EU das wahre Gesicht eines Landes, das massive Identitätsprobleme hat, sozial zerrissen und innerlich marode ist.

Wer wie ich als Deutscher fast zwei Jahrzehnte in Großbritannien gelebt hat und seit geraumer Zeit aus familiären Gründen zwischen Berlin und Birmingham pendelt, muss bemerken, mit wieviel Unverständnis sich diese zwei Länder gegenüberstehen. Paradigmatisch dafür sind die naiven Sprüche, die ich mir seit nunmehr drei Jahren anhören muss.

Es begann im Frühjahr 2016 mit dem unseligen referendum: "Die Engländer wählen doch nie im Leben den Brexit", hieß es damals allenthalben. Die Deutschen glauben in ihrer Anglophilie bis heute nicht an den Hass vieler Engländer auf alles Deutsche und Europäische. Und sie kennen nicht die erschreckenden sozialen und politischen Realitäten im Vereinigten Königreich.

Ich hielt damals einen Sieg der Brexiteers zwar nicht für wahrscheinlich, aber durchaus für möglich. Was mir von vornherein klar war: Landbevölkerung, Abgehängte und Alte würden sich in überwältigender Zahl für das Desaster einer Trennung von der EU entscheiden. Die Stimmen der Brexit-Gegner in London und den (nicht sehr vielen) liberalen Städten, samt der europafreundlichen Bevölkerung Schottlands, würden das nicht unbedingt ausgleichen können. Und so ist es ja dann auch gekommen.

Was mich aber schockiert, wenngleich nicht erstaunt hat: die Lethargie, das Desinteresse und die Ignoranz junger Menschen, deren Votum für eine Zukunft in Europa die Katastrophe hätte verhindern können. Doch die jungen Wähler blieben in großer Zahl zu Hause, nahmen die Abstimmung gar nicht als relevant für ihr Leben wahr. Und was eigentlich noch schockierender ist: An dieser verantwortungslosen Gleichgültigkeit hat sich bis jetzt kaum etwas verändert. Zwar sorgen sich manche Studenten um das womöglich ausbleibende Erasmus-Stipendium im Auslandsjahr, aber ansonsten sind sie weitgehend unbekümmert und haben keine Ahnung von den derzeit jede Woche stattfindenden Abstimmungen im Parlament.

Die Deutschen (und Österreicher) wiederum interessieren sich sehr für das Brexit-Tohuwabohu und sprechen mich immer wieder darauf an. Unisono begegnet man meinen Klagen jedoch mit der Einschätzung: "Keine Sorge, der Brexit wird doch nie kommen."

Hatte ich solche Sprüche die letzten zwei Jahre eher gelassen genommen, um nicht allzu sehr als Eiferer und Besserwisser dazustehen, enervieren sie mich seit rund einem halben Jahr derart, dass ich eine Geldwette in beliebiger Höhe anbiete. Das aber verschreckt die allermeisten Prognostiker, und nur resistent Anglophile wollen nicht wahrhaben, in welche Bredouille sich die Briten selbstverschuldet manövriert haben. Der Brexit wird kommen, koste es, was es wolle . . .

Für mich war das Ergebnis des Referendums ein Wendepunkt, an dem eine lebenslange, wenngleich in den letzten Jahren merklich abgekühlte Loyalität zu England ihr Ende fand. Verstand ich mich vorher als kritischer Deutsch-Brite, der Missstände in beiden Ländern wahrnahm, zugleich aber die vielen Pluspunkte des britischen Universitätssystems im Vergleich zum paternalistischen Unibetrieb in deutschsprachigen Ländern schätzte, so erwies sich die Volksabstimmung als manifester Ausdruck dessen, was man zuvor zwar klar wahrgenommen, aber immer als zu subjektive Erfahrung zu verdrängen suchte: das Bewusstsein, nur geduldet, aber nicht wirklich erwünscht zu sein.

Absurder Fragebogen

Eine schmerzhafte Erkenntnis, die auch viele andere europäische Dauergäste in ähnlicher Weise machten. Nachdem der erste Schock überwunden war, begann ein hektischer Aktivismus unter uns Europäern: man versuchte (vergebens), verlässliche Informationen über den künftigen Aufenthaltstatus zu eruieren; manche Kollegen beantragten gar die britische Staatsbürgerschaft, andere füllten einen 80-seitigen Fragebogen aus, um eine residence permit zu beantragen.

Die Medien kolportieren schnell Horrorstories darüber, wie diese Anträge zu absurden amtlichen Briefen führten, in denen EU-Bürger, die seit mehr als zehn Jahren mit britischen Staatsbürgern verheiratet waren und schulpflichtige Kinder hatten, aufgefordert wurden, das Land aufgrund mangelnder Aufenthaltsberechtigung umgehend zu verlassen.

Meine erste Reaktion auf den Volksentscheid hingegen war, die Betriebspension in die Eurozone zu übertragen. Davon riet jeder Finanzberater ab, da dieser speziell für Akademiker aufgelegte Rentenfonds überaus großzügige Konditionen beim Erreichen des 65. Lebensjahr anbot. Die Zeit meiner Pension aber hatte ich immer schon nicht in England verbringen wollen. Lange glaubte ich auch, niemals alle bürokratischen Hürden überwinden zu können, die errichtet wurden, um zu verhindern, dass einem Pensionsfonds, der aufgrund von eklatantem Missmanagement eine Negativbilanz von rund 17 Milliarden Pfund aufwies, die einem zustehende Summe entzogen wird.

Einfacher waren die begleitenden Schritte: Zu den symbolischen Handlungen eines innerlichen Abschieds von Britannien gehörte, meinen britischen Führerschein in eine deutsche Fahrberechtigung überschreiben und mir nach 30 Jahren wieder einen deutschen Personalausweis ausstellen zu lassen. Kein Verwaltungsdokument mehr sollte mich mit dem britischen Staat verbinden. Der aus dem Salzkammergut stammende jüdische Exilautor Jean Améry zitierte einmal ein österreichisches Sprichwort, das mir in diesem Zusammenhang immer einfällt: "In a Wirtshaus, wo man aussig’schmissen wurn is, geht ma nimmer eini."

Auf die mittlerweile besorgten Fragen, ob ich denn nach dem Brexit ("Ich glaub ja eh nicht, dass der kommt, aber falls doch") überhaupt noch ein Aufenthaltsrecht in Großbritannien besitzen würde, kann ich mittlerweile antworten: Ja, natürlich.

Denn zumindest was das Hochschulwesen betrifft, hat die Regierung die Notwendigkeit der Präsenz europäischer Akademiker erkannt. Wir durften sogar privilegiert an einem Pilotprojekt im Rahmen des EU Settlement Scheme teilnehmen, das zur Erteilung der umständlich indefinite leave to remain benannten Aufenthaltsgenehmigung diente. Zwar war die online zu bewältigende Antragsprozedur an technischen Unzulänglichkeiten und Absurditäten kaum zu überbieten, doch brachte sie innerhalb von weniger als einer Woche den positiven Bescheid.

Erbärmliche Politik

Wie das verantwortungslose Spiel der europafeindlichen Mitglieder der konservativen Partei mit ihrem Land weitergeht, darüber kann nach den Ereignissen der letzten Wochen niemand mehr eine seriöse Prognose wagen. Offenkundig ist nur: Man will den Brexit um jeden Preis. Die erbärmliche Premierministerin, die ja ursprünglich gegen den Austritt war, bis sie die Möglichkeit bekam, die politische Macht an sich zu reißen, um den Brexit herbeizuführen, hat alle Glaubwürdigkeit längst verspielt. Kaum weniger verantwortungslos als die Tories agiert auch die Opposition unter ihrem gleichfalls europafeindlichen Parteivorsitzenden, dessen einziges politisches Ziel es ist, das Premierministeramt nach dem absehbaren Kollaps der Regierung zu erringen.

Das zynische politische Austrittstheater wird also auf dem Rücken jener Bürger ausgetragen, die den Brexit nie wollten, und jener Wähler, die so dumm waren, auf die demagogischen Parolen der Austrittsbefürworter hereinzufallen und gegen ihre eigenen Interessen dafür zu stimmen. Dass sich Großbritannien in peinlichster Weise in der internationalen Wahrnehmung blamiert, ist schon fast egal, denn viel schwerwiegender sind die irreparablen Schäden, die das Land erlitten hat: das wahrscheinliche Wiederaufbrechen des Nordirlandkonflikts, das verstärkte Zerwürfnis zwischen England und Schottland, vor allem aber eine umfassende Spaltung der Gesellschaft, die unvermeidliche Schädigung der Wirtschaft und der allseitige Vertrauensverlust in das politische System und die politischen Eliten.

Die Misere, in die sich die britische Politik manövriert hat, schreibt sich aber auch aus spezifischen Problemen her, die in der fahrlässig herbeigeführten Volksabstimmung ein Ventil fanden: fröhliches Fortleben der Klassengesellschaft einerseits, skandalös hohe Kinderarmut andererseits, oder die zunehmenden Spannungen zwischen "weißer" und postkolonial-migrantischer Bevölkerung, befinden sich Erstere doch etwa in London demographisch schon in der Minderzahl. Der Brexit wird die Probleme, die aus all diesen Spannungen resultieren, nur noch verstärken. Großbritannien verdient nicht Bewunderung, sondern Mitleid.

Uwe Schütte, geboren 1967 in Menden (NRW), ist Universitätsdozent in Birmingham, wo er deutsche und österreichische Kultur und Geschichte lehrt, und ständiger Mitarbeiter im "extra".