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"Nur Gott ist nicht zu Hause"

Von Teresa Reiter

Politik

Serbien gerät zunehmend ins Zentrum der Flüchtlingstragödie.


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Belgrad. Fast 140 Kilometer von Belgrad entfernt, direkt an der bosnischen Grenze, liegt Banja Koviljaca, der älteste Kurort Serbiens. Unter hohen Nadelbäumen schlängelt sich eine steile Straße zwischen verfallenen Villen den Hügel hinauf, auf dem ein Bau aus den 1960er Jahren thront. Auf dem Parkplatz sitzen somalische Jugendliche herum. Die dünne Sportkleidung schlottert ihnen um die mageren Beine. Sie langweilen sich.

Das Haus auf dem Hügel ist Serbiens Vorzeigeunterkunft für Flüchtlinge, in das die Behörden vor allem Familien und unbegleitete Minderjährige schicken. Hier wohnen die Menschen, gegen die Europa Zäune baut. Vier Meter hoch und 175 Kilometer lang soll etwa jener werden, den die ungarische Regierung in dieser Woche angekündigt hat, um die Südgrenze zu Serbien dichtzumachen.

"Ich hatte einen kleinen Laden und habe Bustickets verkauft. Eines Tages kamen Kämpfer der Al-Shabaab-Miliz und die Islamisten haben mich beschuldigt, an Regierungsmitglieder Tickets verkauft zu haben. Aber wenn jemand ein Busticket kauft, frage ich ihn doch nicht, ob er für die Regierung arbeitet", erzählt Ali auf dem Parkplatz. "Doch der Al-Shabaab ist das egal. Als ich kurz nach nebenan ging, brachten sie meinen Geschäftspartner, meine Familie und alle, die sonst noch da waren, einfach um." Der 32-jährige Somalier verließ daraufhin Mogadischu zu Fuß, denn Auto besaß er keines. An einer Hand zählte er die Länder auf, die er zu Fuß, mit dem Bus oder als Autostopper durchquerte: "Äthiopien, Sudan, Ägypten, an der Küste entlang durch das zerrissene Syrien und schließlich die Türkei." Am schlimmsten sei aber das Gefängnis in Griechenland gewesen. In diesem Gefängnis habe er drei Nächte lang nicht geschlafen, weil jemand gedroht habe, ihm die Organe herauszuschneiden und zu verkaufen. "Ich habe noch nie so viel Angst gehabt", flüstert der 25-Jährige mit glasigen Augen.

Der derzeitige Ansturm ist Serbiens erste Erfahrung mit großen Flüchtlingsströmen. Suchten laut der UN-Flüchtlingsbehörde UNHCR im Jahr 2009 noch insgesamt 275 Menschen in Serbien um Asyl an, so waren es im Vorjahr bereits 16.490. Lokale Flüchtlingsorganisationen gehen jedoch davon aus, dass sich immer zwei bis drei Mal mehr Flüchtlinge im Land befinden, als bei den Behörden registriert sind.

Die serbische Bevölkerung, deren eigene Kriegserfahrung noch nicht lange zurückliegt, verhält sich bis jetzt relativ solidarisch mit den Neuankömmlingen, die vor allem aus Syrien, Afghanistan, Somalia und Eritrea stammen. "Natürlich gab es auch Demonstrationen in kleineren Orten", sagt Rados Djurovic, Geschäftsführer des Serbischen Asylantenschutzzentrums APC/CZA. "Aber was bisher ganz gut funktioniert hat, ist, dass wir den Leuten kommunizieren, dass diese Menschen genau so sind wie unsere Flüchtlinge damals aus dem früheren Jugoslawien. Das verstehen sie." Gemeinsam mit seinem Team aus Psychologen, Pädagogen, Juristen und Übersetzern kümmert sich Djurovic täglich an die zwölf Stunden um die in den Flüchtlingsheimen untergekommenen Menschen. Sie organisieren Gruppenworkshops, helfen bei Asylanträgen und rechtlichen Schwierigkeiten, bieten Sprachunterricht und psychosoziale Betreuung an.

Lieber Muhammed als Dejan

Bei jedem Besuch des Camps finden die APC/CZA-Leute jedoch eine neue Situation vor. Neue Leute sind angekommen, manche schwer traumatisiert und erschöpft von der langen Reise. Andere sind weitergezogen, um den Versuch zu wagen, die schon jetzt schwer bewachte Grenze zu Ungarn zu überqueren, um am Ende in Deutschland oder Österreich, so hoffen sie, Ruhe zu finden. Sind sie einmal aufgebrochen, so gibt es für die Sozialarbeiter meist keine Möglichkeit zu erfahren, was mit ihnen passiert ist. Jana, die Psychologin des Asylzentrums, geht von einem zum anderen. "Hey, hast du etwas von Muhammed gehört? Bist du mit ihm über Facebook oder WhatsApp in Kontakt?", fragt sie, als sie die Bewohner für das Tagesprogramm zusammentrommelt. Aber niemand weiß etwas.

Unten im Erdgeschoß hat Rados bereits mit der Rechtsberatung begonnen. Etwa zehn junge Männer und Frauen wollen wissen, ob sie hier in Serbien zur Polizei gehen dürfen, falls sie überfallen werden und vor allem wollen sie wissen, was als Nächstes passiert. Rados erklärt geduldig und verteilt Einverständniserklärungen. "Hier, unterschreib das und sag mir deine Zimmernummer. Ich werde euer Anwalt sein. Wenn ihr in Schwierigkeiten geratet, möchte ich, dass ihr mich anruft", sagt er und schaut die kleine Gruppe eindringlich an. "Auch in Ungarn?", will ein junger Mann wissen. "Nein. Nur in Serbien. Wir sind eine serbische Organisation", antwortet Rados. Der Teenager blickt verunsichert auf das abgestoßene Fischgrätparkett unter seinen Füßen.

Auch Marea, Projektmanagerin bei APC/CZA, hat eine große Aufgabe vor sich. Sie muss die Kinder in der örtlichen Grundschule anmelden, eine einzige Schlacht mit der Administration. Als sie das letzte Mal hier war, wurde sie beinahe hochkant aus dem Schulgebäude geworfen. "Die haben mich beschimpft und wurden echt persönlich", sagt sie. Doch sie ist wild entschlossen, heute zwölf Kinder anzumelden. Auch wenn die Familien nur für ein paar Wochen bleiben, sei es wichtig, dass sie Unterricht bekämen, denn so verlieren sie nicht so viel Zeit. "Für die Kinder ist es großartig", sagt Marea. "Sie merken, dass es eine positive Veränderung für sie ist. Sie lernen so schnell und es ist gut für sie, einmal nicht unter depressiven Erwachsenen zu sein." Die Anmeldung ist laut Marea vor allem deshalb schwierig, weil es immer wieder einige Eltern gibt, die nicht einsehen, warum nun ausgerechnet in der Klasse des eigenen Kindes Flüchtlingskinder aufgenommen werden sollen. Den Kindern selbst sei es egal, woher jemand kommt, erzählt Marea und erinnert sich lächelnd an einen der ersten Flüchtlingsbuben, die hier eingeschult wurden. Er wurde schnell der Liebling der Lehrer und die Kinder erzählten zu Hause, dass sie ab jetzt lieber Muhammed sein wollten als Dejan oder Vesna.

"Der Druck wird steigen"

Zurück im Zentrum veranstaltet Jana gerade einen Sitzkreis und bittet jeden, ein wenig von seinem Heimatland zu erzählen. "Das Problem in Bangladesch ist die Politik", sagt ein Teenager aus Bangladesch. Zwanzig Männer und Frauen aus acht Ländern nicken zustimmend. In dem Moment wird die Tür aufgerissen und ein Kleinkind brüllt nach seiner Mutter. Layle ist 27 und hat vier Söhne, der vierte wurde erst auf der Straße in Griechenland geboren. Sie ist blass, sieht aus als hätte sie seit einem Jahr nicht mehr geschlafen. Als zwei ihrer Kinder johlend den Sitzkreis stören, zuckt sie lachend mit den Schultern, als wollte sie sagen: "Ja, ich habe eben ziemlich viele Kinder." Als die Reihe schließlich an Jean aus dem Kongo kommt, erzählt er von den vielen Kirchen in seiner Heimat. "Nur Gott", sagt er "ist nicht zu Hause", und es wird still im Kreis.

Vor der Tür versucht Ali, Layles restliche Kinder zu zähmen. Der Somalier ist einer der wenigen Bewohner, die derzeit nicht vorhaben, weiterzuziehen, um ihr Glück an der ungarischen Grenze zu versuchen. Er hat kein Geld mehr, keine Kraft und sitzt hier in Serbien fest. Er deutet auf sein Herz und sagt: "Hier war früher die Zukunft. Jetzt ist da gar nichts." Er hat keine Ahnung, ob und wie es für ihn weitergehen kann. Momentan kann das Land noch für ihn sorgen, doch es kommen mehr und mehr Flüchtlinge. Wo sie hin sollen, ist unklar.

Rados Djurovic vom APC/CZA sagt: "Die Gesetze sind nicht schlecht, aber die Implementierung schon. Polizisten haben kein Asyl-Training und so geht immer wieder etwas schief." Erst kürzlich gab die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen Bericht heraus, der die übermäßige Gewalt kritisierte, mit der serbische Polizisten gegen Flüchtlinge vorgehen. "Die Bedingungen werden schlechter werden, je mehr Flüchtlinge kommen", sagt Djurovic. Serbien würde bald an die Grenze seiner Kapazitäten stoßen, ein Ende der Flüchtlingsströme sei hingegen nicht in Sicht. Finden die EU-Staaten nun Wege, Menschen an der Überquerung des Mittelmeers zu hindern, so könnte das eine Verlagerung des Flüchtlingsdrucks auf die Westbalkanroute bedeuten.

59,5 Millionen Menschen waren zum Ende des Vorjahres weltweit auf der Flucht. Ohne ausreichende Nahrung und medizinische Versorgung ist ihre Lage oftmals lebensbedrohlich. Um auf ihre Not aufmerksam zu machen, hat die UNO den 20. Juni zum internationalen Gedenktag erklärt.

In Syrien ist die Lage besonders kritisch: Nach UN-Angaben waren Ende Mai 2015 knapp vier Millionen Syrer auf der Flucht, etwa ein Viertel von ihnen ist unter 25 Jahre alt. Der Ausbruch des Krieges in Syrien ist es auch, der für die drastische Zunahme der Flüchtlingsbewegungen von 2013 auf 2014 verantwortlich ist. Diese Steigerung war die höchste, die jemals im Lauf eines Jahres dokumentiert wurde - von 51,2 Millionen auf eben knapp 60 Millionen.

Vor zehn Jahren waren es laut UN-Angaben noch 37,5 Millionen Flüchtlinge. Im Jahr 2014 wurden täglich durchschnittlich 42.500 Menschen zu Flüchtlingen, Asylsuchenden oder Binnenvertriebenen. Das entspricht einer Vervierfachung der Flüchtlingszahlen über die letzten vier Jahre.

Wissen: Weltflüchtlingstag