Industrievertreter, AHS-Lehrerin und Organisationsexperte. | Plädoyer für "Allianz der Vernunft". | Wiener Zeitung: Hier sitzen eine AHS-Lehrerin, ein Industrievertreter und ein Organisationsexperte. Was sollten vorrangige Ziele im österreichischen Bildungswesen sein? Wissensvermittlung? Den Lehrstoff durchbringen? Wertevermittlung? Das Gute, Wahre und Schöne? Kritikfähigkeit? Zivilcourage? Oder ist der Eindruck richtig, dass man ein bisschen orientierungslos ist?
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Isabella Zins: Ich fühle mich nicht orientierungslos. Mir geht es auch nicht nur darum, meinen Lehrstoff durchzubringen. Für mich ist das, was im Zielparagrafen steht und die AHS betrifft, gültig: umfassende vertiefte Allgemeinbildung, die zur Universitätsreife führen kann. Daher sollte ein Fächerkanon bleiben, eine Basis, auf der man später aufbauen kann. Natürlich sollte immer die Wertevermittlung mitschwingen. Das Problem ist, dass die Schule fast allein steht. In der Öffentlichkeit gilt Bildung als uncool, außer vielleicht in der Millionenshow. Und Prominente prahlen damit, dass sie schlecht in der Schule waren.
Gerhard Riemer : Uns geht es darum, dass Österreich als Innovationsstandort in die Spitze Europas vorstößt. Innovationsqualität verlangt Bildungs- und Schulqualität. Es geht natürlich um gute qualifizierte Mitarbeiter, die ganz verschiedenen Anforderungen gerecht werden können. Aber in Wirklichkeit geht es um viel, viel mehr. Es geht auch um die Wettbewerbsfähigkeit in der Gesellschaft. Es geht darum, Persönlichkeiten zu entwickeln. Jeder junge Mensch hat seine Qualitäten und Stärken, und diese Stärken gilt es zu entdecken, zu fördern, weiter zu entwickeln. Es geht darum, junge Menschen auf eine moderne, dynamische, sich permanent verändernde Berufs- und Arbeitswelt vorzubereiten, Inhalte, Wissen, Kompetenz zu vermitteln, die Basics, auf denen aufbauend man sich weiter entwickeln kann und sich im Rahmen des lebenslangen Lernens ständig bewähren muss. Wir brauchen eine bessere Breite im Bildungswesen - und eine breitere Spitze.
Wir sind extrem unglücklich über das, was läuft. Wir sind in einer Phase des permanenten Wahlkampfes, der auf dem Rücken der Schule ausgetragen wird, was fast einer Katastrophe gleichkommt. Das Bildungssystem in Österreich ist wirklich gut. Aber nur gut sein reicht für die Zukunft nicht mehr. Letztlich geht es um eine Allianz für Schulqualität, die man in Österreich schaffen müsste. Ich fürchte aber, dass auch die Allianz der Vernünftigen nicht breit genug ist, um das noch rechtzeitig vor dem Herbst des nächsten Jahres zu beginnen.
Stephan Berchtold: Wir haben sehr gut gesehen, aus der Lehrersicht, es ist durch die gesetzliche Lage mit den allgemeinen Formulierungen durchaus eine Zielrichtung vorhanden, die eine Lehrperson auch umsetzen kann. Was die Frage des Standorts betrifft: Dieser Diskurs fehlt. Das Gesetz ist über die Jahre fortgeschrieben worden und im Grunde noch auf Maria Theresia zurückzuführen. Aber was brauchen wir jetzt? Dieser Diskurs müsste jetzt in Gang kommen. Das ist sicher ein Prozess über Jahre. Was man schnell einstellen sollte, ist der Wahlkampf auf diesem Gebiet, parteipolitische Überlegungen, wo jeder versucht, zu seinem Vorteil das Thema zu instrumentalisieren. Dann sucht man irgendeinen Schuldigen, es wird keine wirklich fundierte Konversation eingeleitet. Allianz der Vernünftigen finde ich ein gutes Stichwort. Die Frage ist: Wer sind die Leute, die hier mitreden müssten? Ich glaube, dass diese Allianz der Zusammenarbeit möglichst viele Gruppen der Gesellschaft einbinden sollte, um in einen Diskurs hineinzukommen.
Riemer: Man hat das ja mit der Zukunftskommission nicht sehr glücklich probiert. Man kann das nicht nur pädagogischen Wissenschaftern überlassen. Wenn Wissenschafter etwas übernehmen, ist es nicht ihre Aufgabe, Politik damit zu machen. Darum ist das an sich gute Ergebnis der Zukunftskommission so zerredet worden und schwer umsetzbar. Ich glaube, man braucht eine international erfahrene Runde, die Dinge vorbereitet, die man dann in einem breiten Konvent diskutiert.
Berchtold: Man unterscheidet Fachberater und Prozessberater. Die Pädagogen sind Experten für pädagogische Fragen, können aber nicht Vorschläge abgeben, wie ein solcher Veränderungsprozess aussehen kann. Jetzt gibt es eine Strukturkommission. Die Frage ist, was die können soll und wird. Man braucht ein internationales Forum, Experten, aber unter Einbeziehung lokaler Sichtweisen, damit ein Prozess in Gang gesetzt wird.
Zins: Mir erscheint wichtig, dass die Lehrer, die sicher Experten sind, was das Unterrichten betrifft, mit einbezogen werden. Das habe ich in der Zukunftskommission vermisst. Das sind Wissenschafter, die aber kaum in einer Klasse stehen. Mich stört der Eindruck: Jetzt muss eine Reform begonnen werden. Schule ist ein "work in progress". Ich unterrichte jetzt 18 Jahre, aber ich entwickle mich laufend fort. Es gibt viele Dinge, die sich zum Positiven verändern - zum Beispiel Bildungsstandards. Die EU-Benchmarks, diese Vergleichsmöglichkeiten - die Pisa-Studie ist für mich nur eine von vielen - haben ein Umdenken gebracht. Wir haben ein gutes, aber verbesserungswürdiges System. Es gibt auch schon Ansätze zur Qualitätssicherung an den Schulen. Wir brauchen sicher auch die externe Qualitätssicherung. Aber es kann nichts herauskommen, wenn man vergisst, die Betroffenen miteinzubeziehen.
Lässt sich als ein vorrangiges Bildungsziel die Persönlichkeitsentfaltung festhalten? Also nach Vermittlung einer gemeinsamen Basis - solides Schreiben, Lesen, Rechnen - eine Förderung gemäß den jeweiligen Begabungen, soweit diese im weiteren Sinn im allgemeinen Interesse liegen? Riemer: Das wären gute Kernziele, um die sich vieles rankt. Ich halte drei Schwerpunkte für wichtig: Schulmanagement, Lehrer-ausund -weiterbildung, Qualitätssicherung. Was ich vermisse, ist Dynamik für die Entwicklung des Lehrerberufs. Das sind die Architekten der Zukunft. Eines der für mich unglaublichen Paradoxa ist: Dieser Beruf wird immer wichtiger, aber die Befindlichkeit der Betroffenen wird immer schlechter. Wir müssen mit allen Mitteln unterstützen, dass sich eine Dynamik in der Lehrerschaft und im Schulmanagement entwickelt: Warum kann zum Beispiel ein Direktor einen Lehrer nicht dem Landesschulrat zurückgeben?
Zins: Klarerweise kann es nicht ein Kochen im eigenen Saft sein. Aber es kann nicht nur die Beraterfirma von außen sein. Wir sind ein kleines Oberstufengymnasium in Mistelbach, umringt von anderen Schulen, haben viel Konkurrenz, aber wir haben vermehrte Schwerpunktsetzung versucht, und der Erfolg hat uns Recht gegeben, die Schülerzahlen sind gestiegen, nicht gesunken. Weil wir gutes Team sind. Für die Entwicklung einer Schule wäre es schon hilfreich, wenn man auch von außen Unterstützung hätte. Aber es müssten auch Ressourcen da sein für Leute, die so etwas betreuen.
Berchtold: Ich habe lange Veränderungsprozesse in Schulen begleitet und mich jede Woche in Konferenzen prügeln lassen als Lehrerfeind. Die Frage ist: Kann man ein System, das so lange in der eigenen Suppe gekocht hat, von außen ändern? Man kann nicht nur von außen Dinge erzwingen. Dazu braucht es einen langen Prozess des Auftauens, um die Leute in die Lage zu versetzen, von sich aus das System zu ändern. Zuerst kommt Widerstand: Der kommt von draußen, der kennt die Schule nicht. Wenn man aber den Prozess mitgeht, eineinhalb, zwei Jahre, dann kommen tolle Dinge heraus, die man sich vorher nicht vorstellen konnte.