Analyse: Wulff war dem Anspruch als moralische Instanz nicht gewachsen.
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Hannover/Wien. Amt verloren, Gattin weg, Image ruiniert: Nein, die vergangenen Jahre waren nicht die des Christian Wulff. Am Donnerstag gab es aber die erste gute Nachricht seit Langem für das 2012 zurückgetretene Staatsoberhaupt Deutschlands: Der 54-Jährige wurde vom Landgericht Hannover vom Vorwurf der Vorteilsnahme freigesprochen. Er wolle Tochter und Sohn vom Kindergarten abholen, war die erste Reaktion Wulffs auf den Freispruch. Sie würden "ihren Vater etwas erleichterter erleben", als das in den vergangenen beiden Jahren der Fall gewesen sei.
Auf den ersten Blick mag man meinen, Wulff sei über den - für politische Verhältnisse - Bagatellbetrag von 720 Euro gestolpert. So viel soll der Filmproduzent David Groenewold beim Oktoberfest 2008 für seinen Gast Wulff übernommen haben. Dabei ging es um Hotel- und Kinderbetreuung, Bier, Enten und Spanferkel, listete die Staatsanwaltschaft minutiös auf. Im Gegenzug soll der damalige CDU-Ministerpräsident Niedersachsens zur Feder gegriffen haben, um Siemens einen Bettelbrief zu schreiben. Denn Groenewold brauchte Co-Financiers für seinen Film "John Rabe", und der bestens vernetzte Politiker sollte den damaligen Chef des Industriegiganten zur Zahlung bewegen. Doch die Indizien waren nicht stichhaltig; Groenewold wurde ebenso freigesprochen.
Wulff als Opfer?
Strafrechtlich ist Wulff somit vollständig rehabilitiert. Warum dann der Zirkus, mögen Kritiker an dieser Stelle einwenden - auch angesichts der enormen Summen, die manch andere Staatschefs in die private Kasse umleiten, wie zuletzt beim abgesetzten ukrainischen Staatschef Wiktor Janukowitsch gesehen. Wulff besitzt keine Protz-Datscha, keinen enormen Fuhrpark, keinen Privat-Zoo und keine Galeere. Dem deutschen Ex-Präsidenten fehlt etwas anderes: das Verständnis für das Amt. Altmodisch gesprochen: Ihm fehlt das Gespür, was politisch erlaubt ist und was nicht.
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Seinen Ruf ruinierte sich der Mann, der einst als Nachfolger von Angela Merkel gehandelt wurde, sukzessive: So schlecht verdiente Wulff nicht, dass er gratis bei Geschäftsleuten absteigen musste - beispielsweise bezog er für seine Flitterwochen die Villa eines Versicherungs-Millionärs. Oder dass ein mit zweifelhaftem Ruf ausgestatteter Ex-Chef eines Finanzdienstleisters um 43.000 Euro Anzeigen zu einem Wulff-Buch schalten musste.
Nichts verdeutlicht Wulffs Verquickung privater und beruflicher Interessen - vorzugsweise mit der Haute-Volée Niedersachsens - besser als der Fall Geerkens: Von Edith Geerkens, Frau eines Unternehmers, erhielt der damalige Ministerpräsident 2008 einen äußerst zinsgünstigen Kredit über 500.000 Euro, ohne Sicherheiten und Tilgung. Wulff und seine Frau Bettina kauften damit ein Haus. Vor dem niedersächsischen Landtag stritt Wulff 2010 geschäftliche Beziehungen zu Egon Geerkens ab; den über dessen Frau laufenden Kredit verschwieg der Politiker. Von der "Bild"-Zeitung im Dezember 2011 darauf angesprochen, drohte Wulff auf der Mailbox des Chefredakteurs den "endgültigen Bruch mit dem Springer-Verlag" an, sprach vom überschrittenen Rubikon und von Krieg. "Bild" machte den Vorfall publik und trat eine Lawine der Empörung los. "Der falsche Präsident" titelte "Der Spiegel" in seiner Ausgabe vom 17. Dezember 2011, drei Wochen später hieß es "In Amt und Würden" auf dem Titelcover des Hamburger Magazins - "Würden" rot durchgestrichen.
68 Tage, nachdem Wulff der "Bild" gedroht hatte, erklärte der zehnte Präsident der Bundesrepublik seinen Rücktritt. Warum er das Amt überhaupt wollte, bereits mit damals 51 Jahren den "Polit-Pensionsposten" übernahm, fragen sich Kenner der Szene bis heute. Dementsprechend konturlos ging Wulff zu Werke. Einzig ein Satz ist in bleibender politischer Erinnerung geblieben: "Der Islam gehört zu Deutschland."
Ein Moralist folgte
Die Öffentlichkeit muss sich fragen, ob es angemessen war, jeden Schnipsel aus Wulffs Privatleben begierig aufzusaugen, von Prostitutions-Gerüchten um seine Ex-Frau bis zur Trennung der beiden. Großes Interesse an Wulff scheint mittlerweile nicht mehr zu bestehen. Nur 2,78 Millionen Deutsche wollten diese Woche das TV-Dokudrama über die zwei Monate vor seinem Rücktritt sehen.
Wulffs Amtsverständnis kollidierte mit dem moralischen Anspruch an die Funktion als Bundespräsident. Sein Nachfolger gilt dagegen als Ober-Moralist: Joachim Gauck. Der Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR mag den einen oder anderen mit seinem Freiheitspathos nerven. Die überwältigende Mehrheit freut sich über mehr Würde im Berliner Schloss Bellevue, dem Amtssitz. Wulff will sich nach dem Urteil vom Donnerstag "wieder der Zukunft zuwenden", möglicherweise wird er als Anwalt tätig. Auf die politische Bühne kann Wulff nicht mehr zurückkehren.