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Analyse: Die deutsche Regierung lässt gegen den Willen der SPD-Minister Strafermittlungen gegen den ZDF-Satiriker Jan Böhmermann zu. Egal ob er verurteilt wird, Kanzlerin Merkel ist bereits jetzt beschädigt.
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Berlin/Istanbul/Wien. Schnellen Schrittes steuert Angela Merkel auf das Podium zu. In für sie hohem Lesetempo rattert sie die fünfminütige Erklärung vom Blatt, um sofort wieder zu entschwinden. Bloß weg, bloß keine Fragen der anwesenden Journalisten beantworten. Es war für die deutsche Kanzlerin einer der unangenehmeren Auftritte in ihrer mehr als zehnjährigen Amtszeit. Am Freitag erklärte sie im Namen der Bundesregierung, dass diese ein Ermittlungsverfahren gegen den ZDF-Satiriker Jan Böhmermann zulässt - wie es der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gefordert hatte.
Ob Böhmermanns selbsternanntes "Schmähgedicht" gegen Erdogan durch die Meinungsfreiheit gedeckt oder strafrechtlich relevant ist, müssen nun die Gerichte klären. Der türkische Staatschef beruft sich auf Paragraph 103 des deutschen Strafgesetzbuches - aus dem 19. Jahrhundert stammend, im Fachjargon "Majestätsbeleidigung" genannt - und hat weiters eine Zivilklage einbringen lassen.
"Im Rechtsstaat ist es nicht Sache der Regierung, Persönlichkeitsrecht gegen Kunstfreiheit abzuwägen. Lediglich die Prüfung wird der unabhängigen Justiz überantwortet", betonte Merkel am Freitag. Man kann ihr nicht die Gesetzeslage vorwerfen, Paragraph 103 wurde nicht von der großen Koalition in Berlin geschaffen. Insofern ist es rechtlich haltbar, dass nun die Justiz zu prüfen hat, ob Jan Böhmermann mit seinem Gedicht die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten hat. Ebenjene Grenzen wollte der Satiriker nach eigenem Bekunden auch ausloten.
Merkels Vorverurteilung
Völlig aus dem Ruder liefen Merkel jedoch die öffentliche Diskussion und die politischen Folgen über das "Schmähgedicht". Seit dessen Ausstrahlung am 31. März ist es das beherrschende innenpolitische Thema in Deutschland. Dazu hat die Kanzlerin entscheidend beigetragen. Indem ihr Sprecher Böhmermanns Verse als "bewusst verletzend" bezeichnete, besänftigte dies den impulsiven Erdogan nicht, sondern stachelte ihn noch an.
Weder Vorverurteilung noch vorgreifende Entscheidung über Grenzen der Kunst-, Presse- und Meinungsfreiheit treffe die Regierung, sagte Merkel am Freitag. Damit steht sie diametral zu den Worten ihres eigenen Sprechers, der bereits ein Urteil über Böhmermann traf. Wenn die Kanzlerin den Satiriker schon nicht offen verteidigen wollte, hätte sie alleine des Selbstschutzes wegen zumindest schweigen müssen.
Eingeigelt in die eigene Kritik, konnte Merkel gar nicht mehr anders, als einen Regierungsbeschluss für die Einleitung eines Verfahrens zu erwirken. Alles andere wäre nicht nur ein Gesichtsverlust gegenüber Erdogan gewesen, sondern hätte auch eine Revolte innerhalb der Union aus CDU und CSU gegen Merkel bedeutet. Gleich vier Ressorts waren an der Prüfung beteiligt, ob ein Verfahren eingeleitet werden soll, nämlich Kanzleramt und Innenministerium (jeweils CDU-geführt) sowie die von der SPD gehaltenen Ministerien Justiz und Äußeres. Letztlich waren es lediglich die Minister des sozialdemokratischen Koalitionspartners, die sich gegen ein Ermittlungsverfahren aussprachen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier sprach von einer schwierigen Entscheidung. "Es gab unterschiedliche Auffassungen zwischen Union und SPD", gestand auch Merkel bei ihrem Kurzauftritt ein.
Egal, zu welchem Ergebnis die Justiz in der Causa kommen wird, die anhaltende Diskussion wird Merkel schaden. Bei jeder Gelegenheit können Kritiker ihrer Flüchtlingspolitik nun darauf hinweisen, in welch Abhängigkeit sich die Kanzlerin zum unberechenbaren Erdogan begeben hat. Und wer Merkels Kurs bisher verteidigte, dem macht es die CDU-Chefin alles andere als leicht, weiter Vertrauen in sie zu setzen.
Zwar verwies Merkel, die Bundesregierung werde auch in Zukunft Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus in der Türkei einmahnen. Wie sehr beides unter Erdogan unter Druck gerät, zeigte sich etwa Anfang März, als die Polizei die Redaktion der regierungskritischen türkischen Zeitung "Zaman" stürmte. Sie stand der Bewegung des Predigers und Erdogan-Gegners Fethullah Gülen nahe und wurde mittlerweile auf Regierungslinie gebracht.
Etwas Gutes hat die Causa Böhmermann dennoch: Paragraph 103, der drei bis fünf Jahre Haft für jemanden bedeutet, der ein ausländisches Staatsoberhaupt, Regierungsmitglied oder einen diplomatischen Vertreter beleidigt, wird bis 2018 abgeschafft. Das ließ Merkel am Freitag wissen.
Genozid oder nicht?
Für Konfliktpotenzial mit Erdogan ist auch künftig gesorgt: Im Bundestag liegt ein Entschließungsantrag der Grünen, die Massaker im Osmanischen Reich an den Armeniern 1915 mit 1,5 Millionen Toten als Völkermord zu werten. Im Februar wurde der Antrag zurückgezogen - aus Rücksicht auf einen kurz danach angesetzten EU-Sondergipfel zur Flüchtlingskrise mit der Türkei.