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Nur wer die Sehnsucht kennt

Von Judith Belfkih

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Von der linearen oder klar aufwärts strebenden Entwicklung bis hin zur sich in engen Schleifen drehenden Spirale - die Definitionen von Geschichte sind höchst unterschiedlich. Worin sich jedoch beinahe alle Historiker einig sind: Aus der Geschichte zu lernen, dazu sind wir nicht wirklich in der Lage. Jede Generation muss ihre eigenen Fehler machen. Folgt man dem Gesetz von sich abwechselnder These und Antithese, so sitzt jede Generation wieder den Irrtümern der eigenen Groß- oder Urgroßeltern auf. Auch wenn die Zyklen länger gefasst sind, die Themen der Menschheit wiederholen sich mit beängstigender Präzision in Zyklen, die auf klassischen Gegenbewegungen beruhen. Dass es in diesem wellenförmigen Kreisen der Thesen und Antithesen einmal den Schritt zur Synthese geben wird, darauf bauen die unverbesserlichen Optimisten dieser Welt. Es kann ja auch immer noch alles gutgehen.

Eine der jüngsten beobachtbaren Gegenbewegungen betrifft den Moralkodex unserer Zeit, genauer gesagt die Strenge der Sitten.

Philosoph Peter Sloterdijk prangerte am Wochenende eine neue Sittenstrenge an und ortet "ganz deutliche neopuritanische Tendenzen". Gegenüber der Situation von 1968, also der Jugendzeit des Philosophen, habe eine Rückentwicklung stattgefunden. Sloterdijk verwies auf die USA, wo Manager teilweise nicht mehr alleine mit einer Kollegin in denselben Lift einsteigen dürften.

Nicht nur in Bezug auf Sitten gilt die bittere Erkenntnis, dass der Mensch Freiheit nur dann zu schätzen weiß, wenn er am eigenen Leib erfahren hat, wie sich die Unfreiheit anfühlt.