Zum Hauptinhalt springen

Nussknacker mit Hirn

Von Ulrich Zander

Wissen

Am 18. Dezember 1912 feierte London die Entdeckung des "Piltdown-Menschen". Der Fund, interpretiert als Bindeglied zwischen Affe und Mensch, erwies sich als größter Schwindel der Wissenschaftsgeschichte.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Herren sind blendender Laune. "Hurrah! Hurrah! Hurrah!", hallt es durch die ehrwürdigen Räume der Geological Society of London. Adressat der Begeisterung ist Charles Dawson, ein angesehener Rechtsanwalt und Amateur-Archäologe. Ihm war, so schien es, etwas geglückt, auf das die heimische Fachwelt sehnsuchtsvoll gewartet hatte: die Entdeckung eines Frühmenschen auf dem Boden des Vereinigten Königreichs.

Charles Dawson, Rechtsanwalt und Amateur-Archäologe, hatte Spaß daran, der Wissenschaft einen Bären aufzubinden.
© Foto: Wikimedia

Das schien überfällig, zumal sich englische Patrioten schon lange ärgerten, dass die auch in der Wissenschaft konkurrierenden Deutschen "ihren" Neandertaler und Heidelbergmenschen hatten. Auch in Frankreich und Belgien waren Relikte unserer frühen Vorfahren aufgetaucht. Und selbst im unterentwickelten Java hatte man entsprechende Fossilien geborgen. Und da der Schöpfer der Evolutionstheorie, der Naturforscher Charles Darwin, bereits 1871 das Auftauchen eines Bindeglieds zwischen Affe und Mensch prophezeit hatte, wurde "Dawson’s Dawn-Man" ("Dawsons Mensch der Morgenröte") kurzerhand zur gesuchten Zwischenstufe erkoren, zum "fehlenden Glied", dem "Missing link".

Affenähnlicher Kiefer

1908 hatten Arbeiter in einer Kiesgrube auf dem Gut Barkham Manor bei Piltdown Common, Grafschaft East-Sussex, Teile eines massiven menschlichen Schädels entdeckt. Hobby-Geologe Dawson, der sich beruflich um die Angelegenheiten des Gutshofes kümmerte, hatte die Männer zuvor angewiesen, auf "alte Knochen" zu achten. Schon die Erdschicht, in der die Schädelfragmente gefunden worden waren, ließ ein sehr hohes Alter der Stücke vermuten. Nun holte Dawson den Leiter der paläontologischen Abteilung des Britischen Museums, Arthur Smith Woodward, hinzu.

Die beiden stießen mit ihrem Grabungsteam in den folgenden vier Jahren auf weitere menschliche Schädelbruchstücke, eine Steinaxt, Knochengeräte sowie tierische Überreste. Die Beifunde und auch die Färbung des Schädels deuteten auf ein Alter von 500.000 Jahren.

Im Sommer 1912 stolperten die Forscher geradezu über einen affenähnlichen Unterkiefer, dem der Gelenkansatz fehlte, der aber zwei Zähne enthielt, die in einer Weise abgeschliffen waren, wie das nur durch die mahlende Bewegung eines menschlichen Kiefers zu erklären war.

Die Verbindung "menschlicher Schädel - äffischer Kiefer" verwirrte manchen Wissenschaftler, denn nach allem, was man bislang aus anderen Funden wusste, hätte das "missing link" genau umgekehrt aussehen müssen, also: Affenschädel, Menschenkiefer. Fachleute, besonders aus Frankreich und Deutschland, mutmaßten, die Schädel gehörten zu unterschiedlichen Spezies aus unterschiedlichen Zeiten. Das wurde als Missgunst abgetan und nach und nach ließ die Euphorie um "die Weltsensation" alle Zweifler verstummen, zumal Dawson 1915 ein weiteres Schädelfragment präsentierte, aufgetaucht angeblich drei Kilometer von der ersten Fundstätte entfernt.

Die Rekonstruktion des ersten Schädels legte nahe, dass es sich beim "Piltdown-Man" ("Piltdown-Mensch") um eine Frau handelte. Und da an dem Schädel Ansatzstellen für die zum Sprechen notwendige Muskulatur nicht erkennbar waren, lästerte der "Daily-Express", ohnehin nicht amüsiert von den ständigen lautstarken Protesten Londoner Frauenrechtlerinnen: "Sie konnte nicht kochen, sie konnte nicht waschen, sie konnte kein Feuer anmachen - und sie konnte auch nicht reden."

Der Name Dawson ging derweil in die Annalen der Wissenschaft ein. Seine Entdeckung avancierte ganz offiziell zu "Dawsons Frühmensch": Eoanthropus dawsoni. An die Fundstelle setzte man später einen Gedenkstein.

Allmählich wurde es ruhig um die Knochen aus dem Kiesbett. Die Menschheit hatte andere Sorgen. Zwei Weltkriege hatten den Kontinent verheert. Jedoch: Die kritischen Stimmen waren nie ganz verstummt, insbesondere, weil der Urmensch aus East-Sussex im krassen Widerspruch zur Hauptrichtung der menschlichen Evolution stand.

Rätselhafter Hominid

Bestätigt wurde das durch das Auftauchen weiterer primitiver Schädel in verschiedenen Weltregionen. Sie alle belegten, dass die Hominiden über Hunderttausende von Jahren zuerst einen menschenähnlichen Kiefer und erst dann den Menschenschädel entwickelten. "Dawsons Dawn-Man" aber galt weiterhin als so etwas wie der rätselhafte Vertreter einer unbekannten Seitenlinie unserer Altvorderen: eine Art früher europäischer Nussknacker mit großem Hirn.

Die Ernüchterung kam Anfang der 1950er Jahre: Wissenschafter des Britischen Museums und der Universität Oxford wiesen mittels einer neuen Altersbestimmungsmethode nach: Der Fund ist eine dreiste Fälschung. Am 21. November 1953 wurde die größte Blamage der Wissenschaftsgeschichte offiziell eingestanden: "Der erste Engländer" lief mit dem Kiefer eines Orang-Utan herum. Die Experten wiesen nach, dass die Knochen mit Eisenlösung und Kaliumdichromat gefärbt worden waren. Der zirka 600 Jahre alte Kiefer beherbergte fossile Schimpansenzähne, die befeilt worden waren. Das Schädeldach hatte einem Menschen aus dem Mittelalter gehört. Opfer der Pest von 1348 waren neben der Kiesgrube von Barkham Manor in einem Massengrab verscharrt worden. Möglicherweise hatte sich der Fälscher der Einfachheit halber dort "bedient".

Die Beifunde wiesen Spuren der Bearbeitung durch Metallwerkzeuge auf. Wie der Oberschenkelknochen eines Elefanten. Der hatte die Form eines Cricket-Schlägers, ein Kuriosum, das 1912 ignoriert worden war. Es sollte die Wissenschaft vermutlich zu der Annahme verführen, der Urmensch sei der Erfinder des britischen Nationalsports gewesen. All das schien nun auf den gefürchteten Humor der Oberschicht hinzudeuten. Aber wer war der Fälscher? Wer war in der Lage, den Schädel derart gekonnt zu präparieren, dass die Crème der heimischen Fachwelt darauf hereinfiel? In Verdacht geriet im Laufe der Zeit beinahe jeder, der mit "der Piltdown-Sache" zu tun hatte. Einige hatten sogar im vertrauten Kreis "Geständnisse" abgelegt. Im Nachlass eines Gelehrten fand man Tierknochen und Zähne, die ähnlich wie beim Piltdown-Man gefärbt und bearbeitet worden waren.

Sir Arthur Conan Doyle

Der berühmteste Verdächtige war Sir Arthur Conan Doyle. Der Schöpfer des Meisterdetektivs Sherlock Holmes hatte gute Gründe, die etablierte Wissenschaft lächerlich zu machen. Deren Vertreter nämlich hatten seine Forschungen zu Spiritismus und Geistwesen als "kompletten Unsinn" abgetan. Der Literat hatte als studierter Mediziner Wissen und Möglichkeit, solch eine gute Fälschung herzustellen. Und unterzuschieben, zumal er nur 15 Kilometer von der Fundstelle entfernt wohnte. In seinem acht Monate "vor Piltdown" erschienenen Urzeitroman "Die vergessene Welt" heißt es: "Knochen lassen sich so leicht fälschen wie Fotografien, wenn man nur schlau genug ist, und sein Handwerk versteht".

Auch Charles Dawson selbst stand unter dem Verdacht, die Knochen bearbeitet zu haben - in seinem Nachlass hatte man getürkte Fossilien gefunden.

Zauberer von Sussex

Darüber hinaus hatte er so verdächtig viele außergewöhnliche Funde präsentiert, dass er von Skeptikern spöttisch "der Zauberer von Sussex" genannt wurde. Im Jahre 1906 hatte er beispielsweise eine neue Eskimorasse aus einem einzigen Knochenstück belegen wollen. Dawson war der Einzige, der bei allen Piltdown-Entdeckungen anwesend oder in der Nähe war, und die Fähigkeiten zur Manipulation hatte. Nach seinem Tod im August 1916, er starb mit 52 Jahren, gab es keine solchen Funde mehr. Dawson hatte schon früh seinen Spaß daran gehabt, der Wissenschaft einen Bären aufzubinden. So will er im Ärmelkanal eine gewaltige Seeschlange gesichtet haben. Man nimmt an, dass Dawson sich auch mit dem Piltdown-Menschen einen Riesenjux machen wollte, der aber, als die Experten wider Erwarten "anbissen", völlig aus dem Ruder lief. Dawson musste dann wohl oder übel "mitspielen".

Übrigens: Das "missing link" wurde bis heute nicht gefunden.

Die Schädelfragmente aus der Kiesgrube waren aber keineswegs in Vergessenheit geraten. Im Jahre 1994 warf Apple Computer einen Power Mac auf den Markt. Codename: Piltdown Man.

Ulrich Zander, geboren 1955, lebt als freier Journalist in Berlin. Der Autor ist spezialisiert auf historische, insbesondere kriminalhistorische Themen.