Japans Premier will die pazifistische Verfassung über Bord werfen und rechtfertigt dies mit Nordkoreas Raketenprogramm.
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Tokyo/Toyama. Eiichi Takeoka wohnt in Toyama, einer 400.000- Einwohner-Stadt am Japanischen Meer - geographisch gegenüber von Nordkorea. Abstecher nach Tokio oder Osaka meidet der 91-Jährige dieser Tage. Der ehemalige Soldat, der im Zweiten Weltkrieg kämpfte, ist überzeugt, dass Nippons Millionenmetropolen im Visier von Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un und seinen Raketen sind. Vor allem der sechste Atomtest Anfang September - angeblich einer Wasserstoffbombe - lässt dem Senior keine Ruhe: "Im Angriffsfall ist der beste Platz zur Flucht ein Tunnel", sagt der immer noch arbeitende Ingenieur, dessen Firma Schienenfahrzeuge für die Instandhaltung von Tunneln fertigt. "Ein Tunnel hält die Strahlung gut ab."
Die bisher stärkste nukleare Explosion hatte ein Erdbeben der Magnitude 6,3 verursacht. Die Sprengkraft war zehnmal so groß wie die der Hiroshima-Bombe 1945 - wenn auch nur ein Bruchteil der stärksten je getesteten Bomben.
19 Raketentests hat Nordkorea allein dieses Jahr durchgeführt - den jüngsten am Freitagmorgen Ortszeit. Es ist das vierte Mal nach 1998, 2009 und zuletzt am 29. August, dass das Regime die Rakete über japanisches Territorium in den Pazifik steuerte. Der nahe der Hauptstadt Pjöngjang abgeschossene Flugkörper, wahrscheinlich eine verbesserte Version der Mittelstreckenrakete vom Typ Hwasong, hatte eine Distanz von 3700 Kilometern und eine Höhe von 770 Kilometern erreicht. Er flog damit höher und weiter als beim vergangenen Test vor zwei Wochen.
Die japanische Regierung verurteilte den Test mit scharfen Worten. Sein Land werde "niemals eine so gefährliche, provokative Aktion tolerieren", sagte Premierminister Shinzo Abe. Südkorea reagierte, indem es seinerseits zwei Raketen in einem simulierten Angriff auf den Norden ins Meer jagte. Von einer "großen Gefahr für den internationalen Frieden und die Sicherheit, der eine globale Antwort verlangt", sprach Nato-Chef Jens Stoltenberg. US-Außenminister Rex Tillerson mahnte Kim Jong-uns Verbündete China und Russland, direkte Aktionen gegen das Land zu setzen.
Der neuerliche Raketentest Nordkoreas kommt kurz nach einer Verschärfung der UN-Sanktionen wegen des Atomtests, der gegen internationale Resolutionen verstieß. Demnach sollen die Öllieferungen nach Nordkorea halbiert und die Exporte von Textilien aus Nordkorea verboten werden. Für Freitag war in New York eine neuerliche Sicherheitsratssitzung angesetzt. Eine weitere Verschärfung der Sanktionen galt aber als unwahrscheinlich. Das Regime in Pjöngjang ließ sich von seinen nuklearen Ambitionen schon bisher nicht abhalten. Die Japaner sind beunruhigt.
Hohe Nachfrage nach Bunkern
Von der Altenpflegerin bis zum Bürgermeister - Nordkorea beschäftigt dieser Tage viele Inselbewohner. Schulen in Tokio und anderen Landesteilen führten zum Beispiel Notfallübungen durch, ließen Kinder mit Feuerschutz-Kopfbedeckungen in Gängen kauern. Eine Firma in Shizuoka, die erdbebensichere Bunker herstellt, sagt, die Nachfrage sei seit den jüngsten Spannungen um ein Vielfaches gestiegen.
Viele beunruhigt, dass in Japan 54.000 Soldaten des wichtigsten Bündnispartners USA stationiert sind. Sie werden - neben den US-Truppen auf Guam - als ein mögliches Ziel Nordkoreas betrachtet. Denn trotz technischer Fortschritte bleibt Amerikas Festland bisher für die Raketen von Diktator Kim Jong-un außer Reichweite.
Nordkorea ist für Japaner das Feindbild schlechthin, erst recht, seit 2002 bekannt wurde, dass es um 1980 über ein Dutzend Japaner entführt hat. Das Schicksal der meisten bleibt trotz Aufklärungsversprechen beider Seiten unklar. "Die Entführungsfrage hat Nordkorea tief ins öffentliche Bewusstsein der Japaner verankert", sagt Sebastian Maslow. Er ist Assistenzprofessor an der Kobe-Universität und befasst sich intensiv mit den japanisch-nordkoreanischen Beziehungen: "Nordkorea fungiert seit Jahren als Projektionsfläche für Japans sicherheitspolitische Sorgen." Die Einführung und den Ausbau des US-Raketenabwehrsystems seit 2003 führt er konkret darauf zurück.
Militärmacht-Ambitionen
So sehr sich die Bevölkerung ängstigt, so sehr hat die Eskalation Japans Premier Abe geholfen. Wegen Bestechungsskandalen unter Druck, sank seine Zustimmungsrate zuletzt gefährlich ab. Doch spätestens, seit Nordkorea mit Raketen auf Guam drohte - Japan liegt in der Flugbahn -, ist davon keine Rede mehr. Stattdessen kann sich der als militärischer "Falke" bekannte Abe nun profilieren. Seine Regierung präsentiert sich im Alarmmodus. "Wir sind darauf vorbereitet, unsere Bürger zu schützen", sagte Sprecher Yoshihide Suga ernst. Neben höheren Verteidigungsausgaben wurden bereits Pläne vorgestellt, mehrere zehntausend in Südkorea lebende Japaner notfalls mit dem Schiff zu evakuieren. Abes Verhalten zeigt Erfolg: Von etwa 30 Prozent stieg seine Zustimmungsrate auf rund 50 Prozent.
Bleibt das Gefühl der Bedrohung hoch, macht es das für die Abe-Regierung leichter, sicherheitspolitische Reformen zu legitimieren, auf die sie in den letzten vier Jahren durch eine Reihe umstrittener Gesetze mit aller Macht hingearbeitet hat. So will Abe etwa das Verteidigungsbündnis mit Amerika stärken; oft betont er seine gute Beziehung zu Präsident Donald Trump. Außerdem will er Artikel neun der Verfassung ändern. Das darin festgeschriebene Verbot der Kriegführung, das Japan nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg aufgezwungen wurde, ist für ihn und andere Nationalisten eine Schmach. Abe schwebt stattdessen der Umbau Japans zum starken Militärstaat vor. Statt die Bevölkerung bei Nordkoreas Raketenüberflügen zu beruhigen, schürt Tokio die Alarmstimmung. In den frühen Morgenstunden des Freitag riss das schrille Piepen ihrer Mobiltelefone, sonst starken Erdbeben vorbehalten, die Menschen in Nordjapan aus dem Schlaf. "Eine Rakete wurde abgeschossen. Begeben Sie sich in ein sicheres Gebäude", stand in einer Nachricht. Die gleiche Botschaft plärrte aus öffentlichen Lautsprechern.
"Das ist Propaganda"
"Ich habe als Erstes gedacht: Das ist Propaganda", sagt Herr Takagi, ein Familienvater in seinen Vierzigern. Die Regierung müsse gewusst haben, dass die Raketen keine wirkliche Gefahr darstellten. Doch sie wolle "die Bürger in der geteilten Furcht vereinen", ist er überzeugt.
Manche wollen bei der Remilitarisierung hingegen noch einen Schritt weitergehen. So regte Ex-Verteidigungsminister Shigeru
Ishiba die Stationierung von US-Atomwaffen in Japan an und löste damit eine Debatte aus. Dabei lehnt eine Mehrheit, geprägt von den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, diese ab. Zudem verbietet Japan seit 1967 den Transport, den Besitz und die Herstellung von Atomwaffen in Japan. Wie lange jedoch dieser Pfeiler des Nachkriegspazifismus erhalten bleibt, wird sich zeigen.