ÖVP-Arbeitnehmerbund mischt bei Neuregelung mit. Er fordert wie die Grünen ein degressives Modell mit Mindestbezug.
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Zuerst hat die türkis-grüne Steuerreform alles andere in den Hintergrund gedrängt. Dann war es zunächst das Festhalten an Sebastian Kurz als Bundeskanzler, bis dieser nach den Korruptionsvorwürfen den Posten als Regierungschef geräumt hat. In diesen Tagen ist untergegangen, dass der ÖVP-Arbeitnehmerbund ÖAAB mit seinem Bundesobmann August Wöginger einen Pflock auf dem Weg zu einer Neuregelung der Arbeitslosenversicherung und des Arbeitslosengeldes eingeschlagen hat.
Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) hat angekündigt, bis Ende 2021 unter Einbindung von Sozialpartnern und Experten ein Reformkonzept vorzulegen, das ab 2022 zum Tragen kommen soll. Mehrere Markierungen dazu finden sich nun im neuen Programm des ÖAAB. Demnach darf die Nettoersatzrate "auch bei längerer Arbeitslosigkeit nicht unter 55 Prozent fallen".
Das ist im Regelfall die derzeitige Höhe des Arbeitslosengeldes, etwa ohne Zuschläge für Kinder. Nettoersatzrate bedeutet, dass das Arbeitslosengeld 55 Prozent des früheren Aktiveinkommens eines Beschäftigten, der arbeitslos gemeldet ist, ausmacht. Diese Untergrenze ist in vergangenen Debatten nicht außer Streit gestanden. Arbeitsminister Kocher hat zugesichert, dass die Notstandshilfe, die meist nach einjähriger Zeit ohne Job an das Arbeitslosengeld anschließt, erhalten bleiben soll.
Ausgestaltung war bisher völlig offen
Wögingers ÖAAB tritt im neuen Programm für ein degressives Modell des Arbeitslosengeldes ein. Das findet sich auch im türkis-grünen Regierungsübereinkommen. Allerdings ist die genaue Ausgestaltung völlig offen. Grundsätzlich bedeutet ein degressives Modell, dass die Höhe des Arbeitslosengeldes nach einer gewissen Bezugsdauer sinkt, wie das auch in Modellen in anderen EU-Staaten der Fall ist.
In der Regierung hat sich Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) ausdrücklich zu einer Umstellung auf ein degressives Modell bekannt. Dies allerdings wie nun auch der ÖVP-Arbeitnehmerbund im Rahmen der bisherigen Nettoersatzrate von 55 Prozent als Mindestbezug für Arbeitslose.
Der ÖAAB geht in seinem Programm, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit beschlossen worden ist, aber noch weiter und verlangt zumindest indirekt, dass es ein höheres Arbeitslosengeld geben müsse. Die Kombination aus degressivem Modell und der Forderung, dass Arbeitslosengeld nicht unter 55 Prozent fallen dürfe, heißt nämlich, dass es für einen Teil der Arbeitslosen mehr Entgelt während der Zeit ohne Job geben muss.
Konkret lautet die Passage: "Der Fall in die Arbeitslosigkeit bedeutet für manche einen starken Einschnitt in die monetäre Situation. Um die Existenzsicherung in den ersten Monaten der Arbeitslosigkeit besser abzustufen und damit diese Situation nicht zur Entmutigung und damit zur Passivität führt, würde eine bessere Unterstützung von Menschen in dieser Situation helfen. Anzudenken ist daher ein degressives Modell des Arbeitslosengeldes, das zu Beginn der Arbeitslosigkeit stärker unterstützt und im Laufe des Zeitraumes der Arbeitssuche langsam abflacht."
Danach wird betont: "Dabei setzen wir uns klar dafür ein, dass die Nettoersatzraten auch bei längerer Arbeitslosigkeit nicht unter 55 Prozent fallen dürfen. Dieses Modell macht Beschäftigung attraktiv und verstärkt Versuche, in den Arbeitsprozess zurückzukehren, etwa auch durch Umschulung beispielsweise in Richtung auf stark nachgefragte Arbeitsplätze." SPÖ und der SPÖ-dominierte Gewerkschaftsbund drängen seit Langem auf eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf eine Nettoersatzrate von 70 Prozent des früheren Gehalts. Vom Koalitionspartner der ÖVP, den Grünen, kommt dafür grundsätzlich Unterstützung, sie sind aber bei der ÖVP-Führung auf Ablehnung gestoßen. Der ÖAAB nimmt mit seiner Festlegung nun eine Zwischenposition ein.
AMS als allgemeine Bildungseinrichtung
Die türkisen Arbeitnehmervertreter haben darüber hinaus eine Umgestaltung des Arbeitsmarktservice (AMS) vor Augen. Die Arbeitslosenversicherung soll künftig eine "Versicherung der neuen Chancen" sein, "als Sicherheit für die Einzelne und den Einzelnen und als Hilfe für einen Neustart, gleichzeitig aber auch als Drehscheibe für Weiterbildung, Qualifizierung und Umschulung". Die Kompetenz des AMS im Bereich des lebensbegleitenden Lernens sei unbestritten. Arbeitnehmer würden aber erst dann in den Genuss dieser Kompetenz kommen, wenn sie arbeitslos sind, oder bestenfalls vor dem Einstieg in eine neue Beschäftigung.
Die Konsequenz aus ÖAAB-Sicht lautet: Das AMS müsse "neben der Gewährleistung sozialer Sicherheit im Fall von Arbeitslosigkeit zu einer umfassenden Bildungsdrehscheibe in Zusammenarbeit mit öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen für bessere Prävention gegen Langzeitarbeitslosigkeit und für Innovation am Arbeitsmarkt umgebaut werden". Das AMS solle als Kompetenzzentrum für Weiterbildung Begleitung während aller Lebensphasen bieten - "nicht bloß Lösungen für Arbeitslose".
Senkung der Beiträge zur Unfallversicherung
Mit einer weiteren Forderung geht der ÖAAB ähnlich wie beim Arbeitslosengeld auf Konfrontationskurs zum ÖVP-Wirtschaftsbund. Das 2002 eingeführte System der "Abfertigung neu", die wie ein Rucksack zu einem neuen Arbeitgeber mitgenommen werden kann, müsse in zwei Punkten geändert werden.
Der Punkt, der von Dienstgebern weniger goutiert wird, betrifft die Forderung, dass die Arbeitgeberbeiträge von derzeit 1,53 Prozent des Bruttolohns für die Abfertigung neu auf 2,5 Prozent angehoben werden. Dabei allein dürfe es nicht bleiben. Gleichzeitig mit dieser Änderung soll die Haltefrist von derzeit drei auf mindestens zehn Jahre angehoben werden. Arbeitnehmer hätten dann erst nach zehn statt bisher nach drei Jahren nach der ersten Einzahlung Anspruch auf Auszahlung des Geldes.
Die ÖVP-Arbeitnehmervertretung knüpft diesen Änderungswunsch daran, dass die Maßnahme "jedenfalls bei einer weiteren Senkung der Lohnnebenkosten miterledigt werden" müsse. Entlastungen bei den Lohnnebenkosten gehören zu den zentralen Forderungen der Wirtschaft. Der ÖAAB sieht für eine derartige Senkung der Lohnnebenkosten zwei Möglichkeiten: niedrigere Beiträge der Arbeitgeber zur Unfallversicherung, weil die Zahl der Arbeitsunfälle langfristig sinkt, oder eine Senkung der Dienstgeberbeiträge zum Entgeltfonds nach Insolvenzen.