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Obama knickt vor seinen Gegnern ein

Von Michael Schmölzer

Politik

Kritiker: Umbau des Gesundheitswesens ohne "public option" unmöglich. | Enttäuschte liberale Demokraten gehen zu ihrem Präsidenten auf Distanz. | Washington. Die Reform des Gesundheitswesens war der leidenschaftlich verfochtene Kernpunkt jenes "Change", den Barack Obama den US-Amerikanern im Wahlkampf versprochen hatte.


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Im Weißen Haus angelangt, muss der US-Präsident jetzt zum Rückzug blasen: Der geplante Umbau der Krankenkassen droht für den Demokraten zur Zerreißprobe, wenn nicht zu einer empfindlichen Niederlage zu geraten.

Knapp vor Antritt seines Urlaubs erklärte Obama vor zahlreichem Publikum, dass die "public option", also die Möglichkeit, eine staatliche Krankenvesicherung in Anspruch zu nehmen, nur ein Nebenaspekt seines Reformvorhabens und nicht deren zentraler Teil sei. Prinzipiell gehe es ihm darum, mehr Konkurrenz zu schaffen und die privaten Krankenversicherer unter Druck zu setzen. Das wäre auch über Genossenschaften möglich, heißt es jetzt plötzlich aus dem Weißen Haus.

Während des Wahlkampfes hatte Obama die "public option" noch als unabdingbar bezeichnet. Das nunmehrige Einlenken dürfte pragmatische Gründe haben. Obama und sein Beraterstab sind offenbar zur Erkenntnis gelangt, dass das Reformgesetz in seiner ursprünglichen Form vom Senat nicht verabschiedet wird. Der demokratische Senator Kent Conrad, eines der sechs Mitglieder des paritätisch besetzten Finanzausschusses, der die Gesundheitsreform vorbereiten soll, umreißt bildhaft die Lage: Es sei vergebliche Liebesmüh, diesen Hasen (gemeint ist die "public option") "weiter zu verfolgen", so Conrad. Zwar verfügen die Demokraten im Senat über eine Mehrheit. Allein, konservative Mitglieder der Präsidenten-Partei haben sich im Senat auf die Seite der Republikaner geschlagen und wollen gegen das Reformgesetz stimmen.

"Nur der Staat kann das System ändern"

Die liberalen Kräfte unter den Demokraten sind angesichts des Kurswechsels entsetzt. Eine Reform, die diesen Namen verdient, sei ohne "public option" nicht denkbar, sagt niemand Geringerer als Howard Dean, ehemals US-Präsidentschaftskandidat, Gouverneur von Vermont und gelernter praktischer Arzt. Zu viele Menschen in den USA, auch der Präsident selbst, wären sich über diese Tatsache im Klaren, so Dean. Kritiker des jüngsten Obama-Rückziehers führen an, dass genossenschaftliche Projekte - etwa die Einführung einer Bauern- oder einer Bauarbeiterversicherung - in der Vergangenheit kläglich gescheitert seien. Nur eine staatliche Krankenkasse, heißt es, wäre durch ihre Marktmacht in der Lage, mit der Pharmaindustrie, den Spitälern und den Ärzten über eine Senkung der Kosten für Medikamente und Leistungen zu verhandeln.

Kritiker des Obama-Kurswechsels weisen auf einen weiteren Umstand hin, der für den US-Präsidenten tatsächlich zum Problem werden könnte: Während er mit seiner Kompromissbereitschaft einige Republikaner überzeugen und ins Boot holen könne, gingen ihm die Stimmen vieler liberaler Demokraten, die weiterhin an den Ankündigungen des Wahlkampfes festhielten, verloren.

Die Widerstände, auf die Obamas Reformbemühungen stoßen, sind nur dann verständlich, wenn man die Eigenheiten des US-Gesundheitssystems kennt. Die Mehrheit der Amerikaner ist mit ihrer Krankenversorgung recht zufrieden. Sie bekommt den Versicherungsschutz als Quasi-Gehaltsbestandteil von ihrem Arbeitgeber. Der kann die anfallenden Kosten in unbegrenzter Höhe von der Steuer absetzen. Die Leistungen, die diese Versicherten erhalten, sind sehr gut, teils besser als das, was dem Durchschnittspatienten in Österreich geboten wird. Auf der anderen Seite gibt es in den USA steuerfinanzierte Versicherungen - für Pensionisten und Arme. Erstere werden über die öffentliche Krankenversicherung Medicare versorgt, letztere über Medicaid.

Das strukturelle Problem des US-Gesundheitswesens besteht darin, dass trotz dieser Möglichkeiten immer mehr Menschen ohne Versorgung dastehen. Wer weder alt noch arm ist und keinen guten Arbeitgeber hat, der muss zu privaten Anbietern gehen, sonst bleibt er unversichert - etwa 47 Millionen US-Bürger sind im Krankheitsfall nicht versichert. Die Angebote am unregulierten Markt werden von Kritikern als teuer und fragwürdig bezeichnet. Häufig kommt es vor, dass Schwerkranke nach einiger Zeit einfach ausgesteuert und Personen, die eine Versicherung erwerben wollen, gar nicht erst angenommen werden. Obama führt in diesem Zusammenhang häufig das Schicksal seiner krebskranken Großmutter an, die erst vor einiger Zeit gestorben ist. Für viele US-Familien bedeutet eine Krebserkrankung den finanziellen Ruin.

Außerdem wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das System teuer und ineffizient sei. Die USA geben 17 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Gesundheit aus, in Deutschland und der Schweiz sind es nur 11 Prozent. Bei wichtigen Indikatoren wie etwa der Säuglingssterblichkeit liegen die USA aber hinter dem europäischen Durchschnitt. Obama will die privaten Krankenversicherer unter Druck setzen und dazu zwingen, bessere Leistungen zu niedrigeren Preisen anzubieten. Zudem will er dafür sorgen, dass die Zahl der Nicht-Versicherten zurückgeht.

Gegenargumente und Angstpropaganda

Mit diesen Anliegen stößt er allerdings bei den Republikanern und Teilen seiner eigenen Partei auf taube Ohren. Deren Standpunkt lautet, dass eine staatliche Alternative die privaten Anbieter auf unfaire Weise in arge Bedrängnis brächte und die für das Land wichtige Versicherungsindustrie in den Ruin treiben würde. Tatsächlich geht es hier um ein Geschäft im Umfang von hunderten Milliarden Dollar. Außerdem, so wird argumentiert, käme der Aufbau einer staatlichen Krankenkasse den Steuerzahlern viel teurer, als das jetzt der Fall sei.

Daneben setzen die Gegner der Reform auf eine Art Angstpropaganda, die ihre Wirkung in vielen Fällen nicht verfehlt. Da ist etwa die Rede davon, dass Obama ein Heer an illegalen Einwanderern gratis versorgen wolle, oder dass alte Menschen einfach nicht mehr versorgt würden, Obama also eine Art Euthanasie einführen wolle. Bei den in den USA üblichen Bürgerversammlungen, bei denen Politiker in direkten Kontakt mit den Menschen treten, werden Verfechter der

Reform mit dem Vorwurf konfrontiert, Obama wolle den Sozialismus einführen. Plakate, die ihn mit Hitlerbärtchen zeigen, werden hochgehalten.

Der US-Präsident hat zuletzt mit einer Werbe-Tour versucht, den Argumenten seiner Gegner, die "doch ein bisschen unehrlich" seien, entgegenzutreten. Er tut sich allerdings schwer: Verantwortung an den Staat zu delegieren gilt als höchst unamerikanisch. Viele US-Bürger ziehen ein schlechtes System dem Unbekannten vor. Kommentatoren bemerken zudem, dass der Kampf gegen die Armut oder die Schaffung sozialer Gerechtigkeit in den USA traditionell wenig zugkräftige Argumente seien.

Erfreut über die Bereitschaft Obamas, in der Frage der Krankenversicherung einzulenken, sind die privaten Versicherer: So stieg der S&P Index, der die größten US-Krankenversicherer umfasst, mit einem Schlag um 4,2 Prozent.

Siehe auch:Stimmung in den USA wird radikaler

+++ Einen Arzt für die US-Gesundheitsreform!