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Szenen einer unvollendeten Sklavenbefreiung.
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Die schwere Systemkrise der USA reflektiert eine tiefgreifende Veränderung der US-Gesellschaft. Es war weniger Ex-Präsident Donald Trump, der Amerika verändert hat, sondern das veränderte Amerika hat einen Präsidenten Trump erst möglich gemacht.
Neben den ökonomischen Gründen für die Krise (Fehlentwicklungen der Globalisierung mit zu vielen Verlierern, um die man sich zu wenig gekümmert hat; kaum Reallohnsteigerungen für die unteren Einkommensbezieher in den vergangenen vierzig Jahren; ökonomische Frustration wegen der Diskrepanz zwischen prosperierenden Städten und einer abgehängten Landbevölkerung) spielt der demografische Gegenwind eine zentrale Rolle, der der gesellschaftlichen Elite der weißen, angelsächsischen Protestanten (White Anglo-Saxon Protestants - Wasps) entgegenweht. Sie waren mehr als 200 Jahre lang die dominierende Mehrheit mit entscheidendem Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Kultur und werden in absehbarer Zeit gegenüber anderen ethnischen Gruppen in der Minderheit sein.
Laut Angaben des United States Census Bureau (Volkszählungsamt, www.census.gov) hatten im Jahr 2013 die Kinder im Alter von unter einem Jahr zum ersten Mal mehrheitlich eine andere Hautfarbe als Weiß. Dieser Wendepunkt, während der zweiten Amtszeit des ersten afroamerikanischen US-Präsidenten Barack Obama veröffentlicht, war von den Demografen schon seit Jahren vorhergesagt worden.
Sie gehen weiters davon aus, dass im Jahr 2030 nicht mehr Geburten der wichtigste Motor des Bevölkerungswachstums sein werden, sondern die Zuwanderung, und etwa 15 Jahre später rechnen sie mit einer "Majority-Minority-Situation", das heißt, dass die einzelnen ethnischen Minderheiten (Afroamerikaner, Indigene, Asiaten, Latinos und andere) zusammen in der Mehrheit sein werden. Erstmals in der US-Geschichte werden dann die nicht-hispanischen Weißen eine Minderheit bilden.
Die afroamerikanische, die hispanische, die asiatische und die ethnisch gemischten Volksgruppen wachsen nicht nur stärker als die nicht-hispanische weiße Bevölkerung, Letztere ist laut Census Bureau auch noch "die einzige Bevölkerungsgruppe, die unseren Prognosen zufolge schrumpfen dürfte". Wie rasant diese Veränderungen vor sich gehen, zeigt eine Untersuchung des Applied Population Lab der University of Wisconsin-Madison, wonach derzeit in 26 Bundesstaaten die Zahl der Sterbefälle bei nicht-hispanischen Weißen über der Zahl der Geburten liegt; Im Jahr 2014 war das in 17 Bundesstaaten der Fall, 2004 nur in vier Bundesstaaten.
Politische Folgen des demografischen Wandels
Mit der Wahl Obamas im Jahr 2008 wurde dieser Trend erstmals deutlich sichtbar. In der jungen, multiethnischen Koalition seiner Anhänger präsentierte sich ein vielfältiges Amerika der Zukunft, das offen, lebendig und auf faszinierende Weise anders sein würde als in der Vergangenheit, in der es so gut wie unmöglich war, ohne die Mehrheit der weißen Stimmen US-Präsident zu werden.
Dieses starke und für viele bedrohliche Bild des stattfindenden Wandels löste bei der weißen Bevölkerung, insbesondere bei den ökonomisch benachteiligten Gruppen, Angst und Wut aus, die Trump durchaus geschickt für seine politische Agenda zu nutzen wusste. Er verstand es, den Wandel als Bedrohung darzustellen und gewann mit seinem Slogan "Make America Great Again" die Wahl 2016. Er war und ist die Stimme des revanchistischen Ressentiments all jener, die Amerika wieder so haben wollen, wie es einst war, die das "wahre, weiß-christliche Amerika" wieder groß sehen wollen.
Trumps unerwarteter Wahlsieg 2016 war für viele ein Schock, er war aber kein "Betriebsunfall" in der US-Demokratie, wie die meisten politischen Beobachter zunächst meinten. Für sie verkörperte Trump einen radikalen Bruch mit den Traditionen und Werten der Republikanischen Partei, weil sie nicht wahrhaben wollten, dass er die logische Konsequenz einer zunehmenden Radikalisierung dieser Partei war, die mit der "Tea Party" begonnen hatte. Diese rechtspopulistische Protestbewegung entstand 2009 und richtete sich zunächst gegen die als kommunistisch betrachtete Wirtschaftspolitik Obamas.
War nach dessen Wahl 2008 noch allenthalben davon die Rede, dass Amerika nun in ein postrassistisches Zeitalter steuere, so wurde bald deutlich, dass das Gegenteil eintreten würde. "Wir müssen unser Land zurückholen" war das beständige Thema des "Tea Party"-Aktivismus, womit sich auch die rassistischen Töne in der Politik verstärkten. Es gab zwar durchaus führende Republikaner, die ihr Unbehagen über diesen Weg zum Ausdruck brachten, aber sie wirkten irgendwie hilflos und schienen nichts anderes tun zu können, als den Zorn ihrer Parteibasis zu kanalisieren.
Abhängig von einer weißen, christlichen Wählerschaft
Die Republikanische Partei, die sich gerne mit dem stolzen Titel "Grand Old Party" schmückt, wandelte sich langsam zu einem Vehikel revanchistischer Wut und machte sich damit abhängig von einer weißen, christlichen Wählerschaft, die ihren sinkenden Einfluss spürt und eine politische Reaktion einfordert, die ihren apokalyptischen Ängsten vor einem "browning America", einem immer dunkelhäutiger werdenden Amerika, angemessen wäre.
Aber "Fakten sind sture Wesen", hat John Adams, der zweite US-Präsident, einmal gesagt. Also musste der Sturheit der demografischen Fakten mit schwerem Gerät zu Leibe gerückt werden, die Ersetzung durch "alternative Fakten" reichte ja nicht aus. Trump forderte eine Mauer, die Lateinamerikanern den Zugang zu den USA erschweren sollte, er forderte ein Einreiseverbot für Muslime und arbeitete daran, den Farbigen den Zugang zur Wahlurne zu erschweren, bis hin zu einer De-facto-Abschaffung des Wahlrechts für Nicht-Weiße, und nicht zuletzt versuchte er die demokratischen Institutionen zu schwächen oder auf seine Linie zu bringen, wo immer es ging.
Er war mit all dem nicht besonders erfolgreich, wie die verlorenen Wahlen von 2020 gezeigt haben, die er dann einfach als "Lüge" bezeichnete. Die Midterm-Kongresswahlen vom November 2022 haben aber den Trend bestätigt, dass sein Stern offenbar im Sinken ist und sich die Sturheit der demografischen Fakten am Ende vermutlich doch durchsetzen wird.
Eine Faustregel zu Politik und Kultur
Es gibt unter US-Politologen eine Faustregel, die besagt, dass die politische Macht der Demografie immer ein Jahrzehnt hinterherläuft, weil in der Struktur des US-Kongresses, der Festlegung der Wahlbezirke und der Zusammensetzung des Wahlmännerkollegiums für die Präsidentschaftswahlen vergangene demografische Strukturen abgebildet sind, die eine gewisse Zeit brauchen, um sich an die gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen.
Die kulturelle Macht hingegen ist dieser Faustregel zufolge der Demografie mindestens zehn Jahre voraus, weil junge, urbane, bunt gemischte Konsumenten für Unternehmen interessant werden und ins Visier genommen werden. Es entstehen neue Marken, und die neu entstehende Kultur wird in Film und Fernsehen sichtbar gemacht. Wenn auf diese Weise kultureller Einfluss entsteht, wird das von den Akteuren in der Regel erst nach einer gewissen Zeit bewusst wahrgenommen und kann nur gelegentlich, jedenfalls erst mit Verzögerung in politische Macht umgesetzt werden.
Was Hautfarbe und Religion betrifft, war der Wendepunkt, dass die weißen Christen eine Minderheit wurden, erstmals unter Obama erreicht, wird aber gemäß dieser Faustregel frühestens 2024 an den Wahlurnen zu sehen sein. Ein Trend in diese Richtung hat sich bei den Präsidentenwahlen 2020 und den Midterm-Kongresswahlen 2022 schon angedeutet.
In den USA haben die nicht-hispanischen Weißen politische Macht, fühlen sich jedoch kulturell zunehmend vernachlässigt und angegriffen, seit Obama mit seiner Familie ins Weiße Haus einzog, die Benachteiligung der Afroamerikaner in Hollywood und bei der Oscar-Vergabe thematisiert wird, wenn allenthalben in Kinofilmen, Fernsehprogrammen und Werbespots ein weniger weißes Land gezeigt wird, wenn hitzige Debatten über den Einfluss von Bewegungen wie "#Black Lives Matter" und "#MeToo" geführt werden und Footballer beim Super Bowl, dem Finale der National Football League, während der Nationalhymne niederknien, um gegen Polizeigewalt zu demonstrieren, die sich gegen Afroamerikaner richtet.
Historisches Erbe der Sklaverei
Die politische Polarisierung der Gegenwart hat ihre Wurzeln in der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er, die maßgebliche Reformen zur Abschaffung der Rassentrennung und zur Durchsetzung der Gleichberechtigung der Afroamerikaner erstritt. Die Sklaverei wurde zwar 1865 abgeschafft, aber in den Jahren danach setzten die Südstaaten die Rassentrennung durch, es wurden Gesetze verabschiedet, die speziell darauf abzielten, schwarze Gemeinschaften zu unterdrücken, was weitere 100 Jahre der Diskriminierung bedeutete, mit Einschränkungen des Wahlrechts, einer allgegenwärtigen Lynchjustiz und vielen anderen Formen der Unterdrückung.
Die Bürgerrechtsbewegung führte dazu, dass die Demokratische Partei sich entschloss, die Gleichheit der Rassen anzuerkennen und politisch zu vertreten, während die Republikaner versuchten, den weißen Gegnern der Bürgerrechtsbewegung eine Heimat zu bieten. In dieser konfliktreichen Zeit waren politische Morde an der Tagesordnung, von denen hier nur die spektakulärsten erwähnt seien: 1963 Präsident John F. Kennedy, 1965 Malcolm X, 1968 Martin Luther King jr. und Robert F. Kennedy.
Mit einer riesigen Welle des Backlashs gegen die Bürgerrechtsbewegung zog Richard Nixon im Jänner 1969 ins Weiße Haus ein, von wo aus er eine Spionagekampagne gegen seine politischen Gegner startete und, nachdem der Watergate-Skandal öffentlich wurde, als erster US-Präsident sein Amt aufgeben musste. Im Vergleich dazu wirken selbst die wildesten Tweets und rüpelhaftesten Beleidigungen Trumps eher blass.
Auch wenn Trump und die reaktionäre Geisteshaltung seiner Anhängerschaft weiterhin eine Bedrohung für die Demokratie darstellen, haben sich die demokratischen Institutionen in den vergangenen Jahren als widerstandsfähiger erwiesen, als viele befürchteten. Die Situation ist jedoch nach wie vor sehr instabil und wird es auch bleiben, solange mit dem demografischen Wandel derart starke Affekte verbunden sind.
Die Republikanische Partei weiß wohl, dass ihre Macht auf einer alternden Wählerbasis beruht, und hat Panik, dass sie ihr deshalb vollständig entgleiten könnte, aber sie ist nicht in der Lage, sich aus der Umklammerung durch die irrationale Anhängerschaft Trumps zu befreien. Das weist darauf hin, dass das historische Erbe der Sklaverei nicht vollkommen aufgearbeitet ist.