Die USA müssen sich mit den neuen Machtverhältnissen in Ägypten arrangieren. An den Islamisten kommt man dabei nicht vorbei.
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Dass US-Präsident Barack Obama zum ersten Mal seine Hand in Richtung Muslimbruderschaft ausstreckte, war im Juni 2009, in seiner berühmten Rede in Kairo. Zehn Mitglieder der Bruderschaft waren unter den Gästen, und sie bekamen einen Passus zu hören, der speziell für sie gefertigt war: "Amerika respektiert überall auf der Welt das Recht aller friedlichen und gesetzestreuen Stimmen, auch wenn wir nicht einer Meinung mit ihnen sind. Und wir werden alle gewählten, friedlichen Regierungen willkommen heißen - vorausgesetzt, sie regieren mit Achtung für ihr Volk."
Nicht anwesend war der damalige ägyptische Präsident Hosni Mubarak, aber auch für ihn gab es eine Botschaft: "Die Unterdrückung von Anschauungen bringt diese niemals zum Verschwinden."
Was die Regierung Obama damals gemacht hat, kann man als "kosmische Wette" auf die friedlichen Absichten der Muslimbruderschaft beschreiben. Indem sie diese umwarben, halfen die USA, die politischen Bestrebungen der Muslimbruderschaft zu legitimieren.
Nun ist die Bruderschaft vorherrschend. Ihre "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei" hat fast 50 Prozent der Sitze in Ägyptens postrevolutionärem Parlament errungen. Ihre Vertreter haben besänftigende Erklärungen und Stellungnahmen für den freien Markt abgegeben. Und es gibt ein Rap-Video der Muslimbruderschaft auf YouTube mit dem Refrain: "Freiheit werden wir schützen und Gerechtigkeit erhalten."
Das alles klingt beruhigend. Aber die Zuverlässigkeit der Muslimbruderschaft als Partner ist weitgehend ungeprüft.
Sie ist so wichtig für die Zukunft der arabischen Welt und gilt trotzdem im Westen immer noch als derart mysteriöse Organisation, dass es nützlich ist, sich ihre Geschichte einmal anzusehen. Unmissverständlich ist, dass sie von Anfang an betonte, wie wichtig es sei, Muslime von westlicher Einflussnahme zu befreien.
Gegründet wurde die Bruderschaft 1928 von Ägyptern, die sich gegen den britischen Kolonialismus wandten. Der Gründer, ein Lehrer namens Hassan al-Banna, scharte sechs Freunde um sich, die für die Suez-Kanal-Gesellschaft arbeiteten. Die Bewegung, die zugleich politisch, kulturell und religiös war, wuchs rasant: Einer Schätzung zufolge hatte sie 1938 bereits 200.000 Mitglieder. Banna wurde 1949 ermordet, nachdem die Bruderschaft die korrupte Monarchie von König Farouk angegriffen hatte.
Ausgefeilt wurde die antiwestliche Botschaft von Sayyid Qutb, dem zweiten großen Märtyrer der Bruderschaft. Nach seinen Besuchen in New York, Washington, Colorado und Los Angeles kam er zu dem Schluss: "Die Seele hat für die Amerikaner keinen Wert."
Die Bruderschaft werde Demokratie durch die tägliche Praxis lernen, meint Olivier Roy, ein französischer Muslim-Experte: "Demokratische Kultur geht demokratischen Einrichtungen nicht voran, demokratische Kultur ist die Verinnerlichung dieser Einrichtungen." Das ist im Wesentlichen die Wette, die Obama eingegangen ist.
Übersetzung: Redaktion
Originalfassung "A 'cosmic wager' on the Muslim Brotherhood"