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Obdachlose finden Unterkunft auf Moldau-Kahn

Von Chris Johnstone

Europaarchiv

Schwimmendes Bett vor historischer Kulisse Prags. | Prag. (afp) Das Schiff heißt "Hermes", wie der Götterbote, und für viele Obdachlose in Prag bringt es eine gute Nachricht: 250 Schlafplätze stehen dort für Menschen zur Verfügung, die bei der postkommunistischen Liberalisierung auf der Strecke geblieben sind. "Für mich ist es das Paradies", sagt der 22-jährige David Stojka, einer der ersten, die im Februar für ein paar Nächte eine warme Mahlzeit, ein Bett und ein Dach über dem Kopf fanden.


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"Wir glauben, dass dies das erste schwimmende Obdachlosenasyl in Europa ist", meint Jiri Janecek, der für soziale Angelegenheiten zuständige Stadtrat. Mit ihrer Größe und Bettenzahl ist die "Hermes" gewiss eine Premiere. Die Unterbringung von Menschen ohne Unterkunft an Bord von Schiffen wurde allerdings auch in Deutschland schon praktiziert. In Hamburg wurden vor einigen Jahren im Rahmen des Winternotprogramms schwimmende Schlafplätze angeboten, in Köln wurden Anfang der 90er-Jahre Flüchtlinge aus Jugoslawien auf dem Rhein untergebracht.

In Tschechien griffen die Sozialbehörden auf das Schiff zurück, um Streit im Stadtrat über die Unterbringung auf städtischem Gelände zu umgehen.

Der Bedarf an Übernachtungsplätzen in Prag ist enorm: Die reichste Stadt Osteuropas hat Schätzungen zufolge 5000 bis 6000 Menschen ohne Unterkunft, die von Obdachlosen verkaufte Zeitschrift "Novy Prostor" ("Neue Chance") schätzt ihre Zahl sogar auf 9000 bis 10.000.

Kaum Geld trotz Job

Die Verantwortung liegt nach Einschätzung von Jakub Chudomel, einem Mitherausgeber von "Novy Prostor", bei der Stadt: Die niedrigen Mieten der einstigen Kommunalwohnungen werden zusehends dem freien Markt angenähert - und das in einem Land, in dem der Durchschnittslohn bei 20.000 Kronen (711 Euro) liegt, die Mieten aber denen westeuropäischer Städte vergleichbar sind. Und so können sich viele Menschen auch dann keine Wohnung leisten, wenn sie einen Job haben.

Josef Kanotz kam aus der Slowakei nach Prag. "Dort gibt es fast keine Arbeit, und wer eine hat, der verdient gerade mal 144 Euro im Monat." Der 27-Jährige freut sich über die Schiffsunterbringung, "weil hier keiner nach Papieren fragt". Jan Dankovsky, ein 70 Jahre alter Pensionist, ist auf das Schiff gekommen, weil er auf die Zuweisung einer Sozialwohnung wartet. Seine Rente, die er ohnehin aufbessern muss, indem er in Restaurants Akkordeon spielt, reicht für eine Wohnung auf dem freien Markt nicht aus.

Doch Sozialwohnungen sind knapp. "Die Stadt hat in den vergangenen Jahren ganze vier Sozialwohnungskomplexe gebaut", sagt Chudomel. Auch Martin Hadascok, der eine von "Novy Prostor" getragene Unterkunft betreut, kritisiert die städtische Politik: "Der Stadtrat hat keine Sozialpolitik für Menschen mit niedrigen Löhnen."

Das Wohnschiff kann nur vorübergehend Erleichterung verschaffen. Bis zu einer Woche dürfen die Menschen bleiben. Ab 19.30 Uhr können sie an Bord, morgens um 6.30 müssen sie das Schiff wieder verlassen. Die meisten von ihnen wollen einen Neuanfang versuchen und sich um Arbeit bemühen - wie der 22-jährige David Stojka.