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"Obergrenze ist den Menschen egal"

Von Simon Rosner, Jan Michael Marchart und Katharina Schmidt

Politik

Laut Migrationsexpertin Kratzmann könnte die restriktive Maßnahme Österreichs zu einer verstärkten Wanderung führen.


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Wien. Da ist Österreich womöglich etwas passiert: eine Obergrenze, die keine sein sollte, sondern nur ein Richtwert, wie es auch im Einigungspapier des Asylgipfels steht, die aber überall als Obergrenze verstanden wird. Oder zumindest fast überall. Kanzler Werner Faymann spricht beharrlich nur von einem Richtwert, also einer Art Zielgröße, und die Wiener SPÖ will überhaupt nichts anders als dies akzeptieren. Und doch war es diese Obergrenze, die es in den medialen Export geschafft hat.

Die Regierungsvertreter der ÖVP hatten den Begriff der Obergrenze propagiert, die Nachrichtenagenturen hatten ihn verbreitet. Und das schuf Fakten. Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble sagte dem "Spiegel" im Rahmen des Weltwirtschaftsforums in Davos: "Ich musste ein bisschen Luft holen, als ich gehört habe, dass diese Entscheidung mit uns nicht sehr eng abgesprochen war. Denn die Bundeskanzlerin hat sich in den vergangenen Monaten auch um eine enge Abstimmung mit Österreich bemüht."

Grundsätzlich ist die Abstimmung der beiden Nachbarstaaten recht eng. Das wird im Bundeskanzleramt ebenso bekräftigt wie von Regierungsseite in Deutschland. "Es gibt einen regen Austausch, und der hat sicherlich auch in den vergangenen Tagen stattgefunden", sagte Christiane Wirtz, die stellvertretende Sprecherin der deutschen Bundesregierung. Dieser Austausch wird auch in Wien bestätigt. Deutschland sei insofern eingebunden gewesen, als die grundsätzliche Stoßrichtung des Papiers bekannt war. Also das Bekenntnis, die Anzahl der Ankünfte von Flüchtlingen zu reduzieren. Dass daraus dann ein Richtwert wurde, den die ÖVP als Obergrenze auslegt, dass nach dem 37.500. Asylwerber Schluss ist, ist dann passiert. Vielleicht auch "passiert".

Obergrenze als Pull-Effekt?

Der gewünschte Effekt dieses "Obergrenzenrichtwerts" kann es aber maximal sein, die Österreicher zu beruhigen. Denn nicht erst seit den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht wird die Stimmung gegen Flüchtlinge immer schlechter. Der Bundespräsidentenwahlkampf tut sein Übriges dazu, dass sich die Regierungsparteien genötigt fühlen, populistische Maßnahmen zu verkünden. Denn umsetzbar ist so eine Obergrenze nicht, darin sind sich die Experten schon einig, bevor noch die von der Regierung in Auftrag gegebenen Gutachten fertiggestellt sind. Sollte der Richtwert schon im März ausgeschöpft sein, werde man eben das Jahr 2017 schon im April 2016 beginnen - und mit den Statistiken tricksen, sagt etwa ein Experte, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will.

Ob nun "Richtwert" oder "Obergrenze": Die Rhetorik von den (bald) dichten Grenzen könnte eine ganz und gar unbeabsichtigte Wirkung haben: Nämlich, dass mehr Schutzsuchende nach Österreich kommen statt weniger. "Aus nationalstaatlicher Perspektive mögen Obergrenzen einen Sinn haben, aber global gesehen ist es den Menschen egal, ob es eine Obergrenze gibt oder nicht", sagt Katerina Kratzmann, Leiterin des Österreich-Büros der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Die Schutzsuchenden würden nur wahrnehmen, dass die Europäische Union nicht handlungsfähig ist und es daher weiterhin Wanderungsmöglichkeiten gebe.

Gleichzeitig stellt Kratzmann fest, dass es durch die neue Praxis an den Grenzen entlang der Balkanroute sehr wohl zu einer verstärkten Wanderungsbewegung nach Österreich und Deutschland kommen werde. Denn schon die Mazedonier lassen an der griechischen Grenze nur noch Personen durch, die sagen, sie wollen in Deutschland oder Österreich um Asyl ansuchen. Ebendiese Politik hat am Donnerstagabend Slowenien angekündigt. "Das führt in der Praxis dazu, dass jemand, der eigentlich nach Finnland, Schweden oder Dänemark wollte, jetzt eben in Österreich oder Deutschland um Asyl ansuchen wird", sagt Kratzmann. Die Kärntner Polizei kündigte am Freitag indes einen Ausbau des Grenzübergangs Karawankentunnel zu einem Kontroll- und Registrierzentrum wie im steirischen Spielfeld an.

Dublin - ein totes Recht

Aber was ist, wenn Deutschland weiterhin vermehrt Menschen an der Grenze zu Österreich abweist, die nicht in Deutschland um Asyl ansuchen wollen? Stranden die Asylsuchenden, die eigentlich nach Skandinavien wollen, dann alle in Österreich? Nein, meint Kratzmann. Entweder beschließen sie, doch in Deutschland Asyl zu beantragen, oder sie sagen, dass sie nach Deutschland wollen, versuchen dann aber, irregulär zum Beispiel nach Dänemark zu kommen. Die einzige Möglichkeit, dieses Chaos zu verhindern, wäre es wohl, konsequent wieder nach dem Dublin-Regime vorzugehen, wonach das Asylverfahren in jenem Land durchgeführt werden muss, über das ein Schutzsuchender erstmals europäischen Boden betreten hat. Doch Dublin ist für die Expertin "tot", sie hofft, dass man doch noch zu einer anderen europäischen Lösung gelangen wird. Doch dafür muss der Leidensdruck wohl erst weiter steigen. Kratzmann glaubt, dass die einzelnen Staaten noch eine Zeit lang weiterhin Alleingänge unternehmen werden - und dann wohl doch wieder auf die Hilfe der Nachbarstaaten angewiesen sein werden. Denn wenn alle die Grenzen schließen, wird die Zahl der irregulären Migranten wieder in die Höhe schnellen.

"Notschrei" Österreichs

Eine Obergrenze ist laut Kratzmann aber definitiv nicht mit internationalen Abkommen vereinbar: "Das wissen die Politiker auch, deswegen haben sie sich auch auf den Begriff ‚Richtwert‘ zurückgezogen." Mit der Genfer Flüchtlingskonvention passt eine Obergrenze jedenfalls nicht zusammen. Und die Konvention steht nicht nur im Verfassungsrang, sondern deren Einhaltung ist auch in der europäischen Grundrechtecharta verankert, die über dem Verfassungsrecht steht.

Das sieht man in der Regierung offenkundig anders: Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sprach am Freitag im Norddeutschen Rundfunk von einem "Notschrei" Österreichs, der die anderen EU-Mitgliedstaaten zu einer restriktiveren Flüchtlingspolitik bringen soll. "Wer jetzt noch immer nicht begriffen hat, dass es eine Obergrenze braucht, überlässt die Zukunft den Populisten und den Radikalen. Und dann wird Europa scheitern, und zwar schneller als so manche glauben", so Mikl-Leitner. "Wozu wir nicht bereit sein können, ist eine totale Überforderung unseres Landes", sagte ihr Parteikollege und Außenminister Sebastian Kurz in der Freitagausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Bundespräsident Heinz Fischer versucht, die Wogen ein wenig zu glätten und forderte die Koalition dazu auf, den Obergrenzen-Streit beizulegen und das Rechtsgutachten abzuwarten. Fischer stellte aber klar, dass "das Asylrecht als solches nicht verhandelbar ist.

Expertin Kratzmann hofft, wie bis vor kurzem auch noch Faymann, auf eine europäische Lösung. Aber dazu müssten zunächst die Hotspots an den EU-Außengrenzen und der dahinterliegende Verteilmechanismus für die 160.000 Flüchtlinge funktionieren. Bisher wurden aber von dort nur 331 Schutzsuchende in andere EU-Staaten gebracht - mit Ausnahme von Litauen erfolgten die Überstellungen auch nur in westliche Länder. Das ist auch ein Grund dafür, warum sich Griechenland gegen Hotspots wehrt, da bisher nur 82 Personen von dort verteilt wurden.

Abschiebung in Bundesheer-Flugzeugen

Aufhorchen ließ der designierte Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ). Er bietet zur Abschiebung von abgelehnten Asylwerbern Unterstützung mit Hercules-Transportmaschinen des Bundesheeres an, sofern der Generalstab zustimmt. n