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Odessas Angst vor dem Himmel

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder aus Odessa

Politik

Nach den jüngsten Raketenangriffen auf Odessa fürchten viele Bewohner der Hafenstadt, dass Russland an ihnen ein Exempel wie in Mariupol statuieren will. Der Taucher Arthur ist gerade erst aus der völlig zerstörten Stadt entkommen.


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Ursache und Wirkung: Keine zwei Stunden, nachdem sich der russische Raketenangriff auf eine Ölraffinerie und ein Treibstoffdepot herumgesprochen hatte, begannen sich in Odessa vor vielen Tankstellen lange Schlangen zu bilden. War es in der Hafenstadt in den vergangenen Wochen trotz regelmäßiger Luftalarme vergleichsweise ruhig geblieben, wurde ihren Einwohnern am Sonntagmorgen schlagartig klar, dass es mit der relativen Entspanntheit bis auf weiteres vorbei sein dürfte. Während es offiziellen Angaben zufolge keine zivilen Opfer zu beklagen gab, hatten sich gegen Mittag über das gesamte Einzugsgebiet der Schwarzmeer-Metropole schwarze Rauchwolken gelegt, die einem zeitweise das Atmen schwer machten. Montagmorgen gab die hiesige Militärverwaltung bekannt, dass es in der Nacht von Sonntag auf Montag zu einem weiteren Raketenangriff gekommen sei. Wiewohl niemand weiß, welches Ziel die seit Wochen vor der Küste kreuzenden russischen Kriegsschiffe ultimativ verfolgen, geht jetzt einmal mehr die Angst um, dass Odessa seine strategische Bedeutung zum Verhängnis werden könnte.

Seit Kriegsbeginn herrscht unter hiesigen wie internationalen Militärstrategen Konsens darüber, dass die Stadt, die den größten und wichtigsten Hafen der Ukraine beherbergt, zu einem bestimmten Zeitpunkt buchstäblich in die Zange geraten könnte. Während die russische Marine das Land vom Meer und von der nur knapp 300 Kilometer Luftlinie entfernt liegenden Krim aus mit Raketen beschießt, versucht Wladimir Putins Armee seit Wochen, sich einen Weg entlang der Küste Richtung Süden zu bahnen. Dieser Plan scheiterte bisher an der Widerstandskraft der ukrainischen Armee und der Bevölkerung von Städten wie Mikolajiw und Cherson. Letzteres fiel zwar bereits Anfang März an die Besatzer, diese sehen sich aber mit beständigem zivilem Ungehorsam und militärischen Guerillataktiken konfrontiert.

"Wie überlebe ich?"

Im Fall eines russischen Durchbruchs droht Odessa indes ein Szenario, im Rahmen dessen Russland gar eine dritte Front im Westen eröffnen könnte: In der benachbarten Teilrepublik Transnistrien, das zwar offiziell Teil Moldawiens ist, aber seit 1992 von Moskau-treuen Separatisten regiert wird, steht eine nicht bekannte Zahl russischer Soldaten, die der Kreml jederzeit mobilisieren könnte.

Auf den Straßen Odessas ist dementsprechend die Angst, dass seine Bewohner nach dem weitgehenden Rückzug der russischen Soldaten aus der Nord-Ukraine zur neuen Zielscheibe von Putins Feldzug werden könnten, seit diesem Wochenende spürbarer denn je. Allem voran bei jenen, die manche seiner schlimmsten Auswüchse bereits hinter sich glaubten. Der gebürtige Odessiter Arthur ist 29 Jahre alt, verheiratet und hat einen Sohn im Alter von zwei und eine Tochter im Alter von vier Jahren. Seit dem Ende seiner Ausbildung zum Berufstaucher arbeitet er vorwiegend im Hafen von Odessa. Ein anstrengender Job: Arthur hat sich auf Unterwasser-Handwerk spezialisiert. Die Firma, für die er arbeitet, bietet ihren Kunden eine Palette an Bau-, Reparatur- und Wartungsarbeiten für Schiffe und statische maritime Strukturen an, die nahezu allesamt händisch erledigt werden müssen. Obwohl Arthur in seinem Beruf für hiesige Verhältnisse gutes Geld verdient, führen er und seine Familie ein vergleichsweise bescheidenes Leben. Die Straßen, die zu seinem Haus in einem westlichen Vorort von Odessa führen, gehören zu den wenigen der Stadt, die auch im Jahr 2022 noch keinen Teer gesehen haben.

Arthur stört das nicht. Er ist hier aufgewachsen und hat noch nie woanders gelebt. Seine Mutter wohnt gleich im Haus daneben, das macht die Kinderbetreuung leichter. Das Problem mit manchen der Geschichten, die Arthur zu erzählen hat, besteht darin, dass sie bisweilen zu unglaublich klingen, um wahr zu sein; aber wie seine Freunde und Kollegen ausnahmslos bestätigen, macht sie das nicht weniger wahr.

Manche von ihnen nennen Arthur "Den Unzerstörbaren", oder "Iron Man". Nicht, weil der Glatzkopf mit den stechend blauen Augen, dem dichten Vollbart und dem Respekt gebietenden Gesichtsausdruck besonders kräftig wäre, sondern weil er in seinem bisherigen Leben Situationen überlebt hat, die die meisten Normalsterblichen direkt ins Grab befördern würden. Nur soviel: der Mann hat bisher unter anderem einen schweren Tauchunfall (2020) und einen schweren Autounfall (2017) überstanden, beide weitgehend ohne Kratzer. Im Juni 2018 wurde er während der Arbeit vom Blitz getroffen: "Ich war danach im Krankenhaus, aber ich habe mich noch in der gleichen Nacht selber entlassen. Der Arm hat zwar noch ein paar Monate weh getan, aber dann war’s auch schon wieder gut."

Das bisher letzte Mal, dass Arthur dem Tod von der Schippe sprang, ist noch keine zweieinhalb Wochen her. Ende Februar hatte er einen Job außerhalb seiner Heimatstadt angenommen. Sein Einsatzort: der Hafen der am Azovschen Meer gelegenen Industriestadt Mariupol, 500 Kilometer östlich von Odessa. Wenn man ihn fragt, wie er den Anfang der Kampfhandlungen in jener Stadt erlebte, die in den vergangenen Wochen weltweit zum Synonym für russische Zerstörungswut geworden ist, fällt ihm nicht viel ein: "Wenn der Himmel über einem brennt, denkt man nicht über das Wie und Warum nach, über Russen und Ukrainer. Das einzige, an was man denkt, ist: Wie überlebe ich?"

"Gnade ihnen Gott"

Als Arthur klar wurde, dass es wegen des beständigen Bomben- und Raketenhagels unmöglich geworden war, die Stadt zu verlassen, richtete er sich gemeinsam mit einem Arbeitskollegen und dessen Frau in der Küche jenes in einem westlichen Vorort von Mariupol gelegenen Hauses ein, das sie für die Dauer ihres Jobs gemietet hatten. "Dort haben wir uns relativ sicher gefühlt. Wir haben die Fenster mit Sand- und Zementsäcken abgedichtet. Aber dann fiel nach der Reihe alles aus: das Wasser, das Gas, der Strom." Als der Gruppe die Lebensmittel ausgingen, machten sich die Männer auf den Weg zum einzigen Markt im Zentrum Mariupols, der noch Waren anbot. Als sie ankamen, schlug eine Rakete in einen dort herum stehenden Laster ein, der voll beladen mit Kartoffeln war. Arthur und sein Kollege nahmen es mit Galgenhumor: "So mussten wir sie wenigstens nicht selber grillen."

Das knapp halbe Dutzend so unfassbarer wie erschütternder Geschichten zu erzählen, wie es die Unterwasser-Arbeiter schafften, in Mariupol zu überleben und was sie dort erlebten, würden an dieser Stelle zu viel Platz einnehmen. Deshalb nur soviel: Am 17. März erkannte Arthur eine Gelegenheit, der mittlerweile rundum von russischen Truppen belagerten Stadt zu entkommen. "An den Checkpoints mussten wir uns ausziehen. Es war saukalt. Die Russen und die Tschetschenen - zwischen Mariupol und bis kurz vor Zaporizhia bin ich fast nur mehr Kadyrovski begegnet (den Kämpfern des mit dem Kreml verbündeten tschetschenischen Kriegsherren Ramzan Kadyrov, Anm.) - haben sich genau unsere Schultern angeschaut. Sie haben nach ukrainischen Soldaten gesucht. Wenn man länger eine Kalaschnikov trägt, bilden sich dort Spuren, die bleiben. Gehen haben sie mich aber immer erst lassen, wenn ich ihnen dann meine Taucherausrüstung gezeigt habe."

Die Tatsache, dass Arthurs Muttersprache, wie die der meisten Odessiter, nicht Ukrainisch, sondern Russisch ist, mag ihn vor noch größerem Unglück bewahrt haben. Nach einer fast einwöchigen Irrfahrt fand er am Ende den Weg nach Hause: "Ich habe erst begriffen, dass ich es geschafft hatte, als ich im Wohnzimmer saß und mich umgeschaut habe." Abstand zu dem, was er erlebt hat, sucht er immer noch. Eigentlich, sagt Arthur, wären er und seine Familie immer eher pro-russisch eingestellt gewesen. Nicht mehr: "Was sie getan haben, ist mit nichts zu entschuldigen. Gnade ihnen Gott, wenn sie nach Odessa kommen."