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Öffentlich untergetaucht

Von Anna Sigmund

Wissen
Anton Burger (r.) im Juni 1948 während seiner Zeit als Forstarbeiter in der Steiermark.
© © Archiv Sigmund

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Über 40 Jahre lang stand er auf der Liste der meist gesuchten NS-Kriegsverbrecher: Der SS-Hauptsturmführer Anton Burger aus Neunkirchen in Niederösterreich. Er war im Stab Adolf Eichmanns im Referat für Judenangelegenheiten in Wien und Brünn für Enteignung und Deportation zuständig gewesen. Als Lagerkommandant im KZ Theresienstadt verübte er unmenschliche Verbrechen und als Organisator von Judentransporten aus Budapest und Griechenland verschickte er Zehntausende nach Ausschwitz.

Die Fahndung nach Burger verlief schon 1945 parallel zu der nach Eichmann, der sich in einem Interview, das er in seinem Versteck in Argentinien gab, über seinen treuen Helfer so äußerte: "Der Burger, das war ein Kerl. Las man ihm einen Befehl vor, war er schon ausgeführt. Ohne wenn und aber!" Eichmann wurde gefasst und in Jerusalem zum Tode verurteilt. Anton Burger blieb verschwunden.

Aus Burger wird Bauer

Anfang 1991 erhielt der als "Nazijäger" bekannte Simon Wiesenthal einen Hinweis auf den Verbleib von Eichmanns Mitarbeiter. Das war nichts Neues. Im Laufe der Jahre hatte man Burger schon mehrmals gesichtet: in Südamerika, dem Nahen Osten und den USA. Jedesmal verliefen die Spuren im Nichts. Doch diesmal fügte der anonyme Absender ein Paket mit Dokumenten bei. Dem Dossier zufolge sollte der Lagerkommandant von Theresienstadt noch leben - und zwar in Deutschland. Die Justiz nahm erneut Ermittlungen auf. Ihre Mühlen mahlten genau, aber langsam. Im Laufe des Sommers stand fest: Anton Burger hatte sich den Namen Wilhelm Bauer zugelegt.

Am 25. Dezember 1991 starb in einem Krankenhaus in Essen ein Mann an Darmkrebs. Der Name des 80-Jährigen auf dem Totenprotokoll lautete Wilhelm Bauer, geboren 1911 im einstigen Feldsberg in Tschechien. Bei der Vorlage eines Haftbefehls war der Gesuchte also bereits tot.

Allmählich lichtete sich das Dunkel um den NS-Verbrecher und ermöglichte eine lückenlose Rekonstruktion seines Lebens. Geboren wurde Anton Burger am 19. November 1911 im niederösterreichischen Neunkirchen. Der Vater war Papierhändler, die Mutter Hausfrau. Anton begann eine kaufmännische Lehre, arbeitete ein Jahr als Verkäufer und meldete sich dann zum österreichischen Bundesheer. 1931 trat er der NSDAP bei. Auf Grund dieser Mitgliedschaft wurde er 1933, nach dem Verbot der Partei in Österreich, unehrenhaft aus dem Bundesheer entlassen. Er übersiedelte nach Deutschland, wo Hitler bereits an der Macht war, erhielt eine Ausbildung bei der SA und erwarb die "Reichsbürgerschaft".

Als Mitglied der "Österreichischen Legion" nahm er 1934 am gescheiterten Putschversuch der Nazis zum Sturz der österreichischen Regierung teil. Unmittelbar nach Hitlers Einmarsch in Österreich im März 1938 kehrte Burger in seine Heimat zurück, wo er mit SA-Kameraden pogromartige Streifzüge durch den Zweiten Wiener Gemeindebezirk unternahm.

Die NS-Karriere des zuverlässlichen "Parteigenossen" Anton Burger, der von der SA zur SS wechselte, begann in der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" im Wiener Palais Rothschild. Der gelernte Verkäufer perfektionierte dort die technische Abwicklung, er wurde zum "Vertreibungsspezialisten" und stieg zum Leiter der Niederlassung des "Auswanderungsfonds für Böhmen und Mähren" in Brünn auf. Er brüstete sich damit, dass er rund 1500 jüdische Wohnungen und Häuser nach der Deportation ihrer Besitzer "verwaltet", das heißt geplündert hatte. In dieser Zeit heiratete Burger eine 24-jährige Niederösterreicherin. 1942 und 1943 kamen seine beiden Söhne zur Welt. Am 5. Juli 1943 übernahm Burger die Leitung des Lagers Theresienstadt. Er führte ein Schreckensregime. "Burger war gefürchtet, für geringste Delikte verhängte er grausamste Strafen", berichtete ein Überlebender des KZ.

Auf Burgers Befehl wurden Zehntausende Menschen, darunter viele Kinder, zur Ermordung nach Auschwitz geschickt. Im Februar 1944 übernahm Burger eine neue Aufgabe. Er schien Eichmann der richtige Mann für die Organisation der Deportation von Juden aus Südgriechenland, Athen und den ägäischen Inseln nach Auschwitz zu sein. Innerhalb kurzer Zeit waren es mehr als 40.000.

Im April 1945 versammelte Adolf Eichmann seine engsten Mitarbeiter in Altaussee im Salzkammergut um sich. Jeder, so auch Burger, erhielt für die Flucht 1000 Dollar und Goldmünzen. Dann trennte man sich. Bald sickerte Eichmanns Versteck in Fischerndorf Nr. 8 bei Aussee durch. Das amerikanische CIC (Counter Intelligence Corps) alarmierte österreichische Gendarmen, die - absichtlich oder irrtümlich - das Haus Fischerndorf Nr. 38 durchsuchten. Eichmann fanden sie dort nicht, jedoch den SS-Obersturmführer Burger. Sie nahmen ihn fest und übergaben ihn den Amerikanern.

Zum Tode verurteilt

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Burger zwei Jahre als "verdächtiger SS-Mann von unbekanntem Rang" im Internierungslager in Glasenbach bei Salzburg saß, während er zur internationalen Fahndung ausgeschrieben war und man ehemalige Kommandanten von Theresienstadt in Wien und Prag hinrichtete. In den Prozessen fiel auch Burgers Name. In Abwesenheit verurteilten ihn ein tschechisches Gericht und das Wiener Landesgericht zum Tode.

Das CIC verhörte Anton Burger am 5. März 1947 erstmals seit seiner Internierung. Burger fehlte jedes Schuldbewusstsein. Bereitwillig gab er Auskunft, leugnete nichts und berief sich auf Befehle des Reichssicherheitsamtes. Theresienstadt hätte er zu einem "Schmuckkasten" machen wollen. Ein Überstellungsantrag des Landesgerichts für Strafsachen in Wien wurde abgelehnt: "Der Genannte ist zur Auslieferung von den tschechischen Behörden gewünscht, welche den Vorzug haben."

Burger wartete das Ende des Kompetenzstreites nicht ab. Er entwich am 19. Juni 1947 durch ein Loch im Lagerzaun. Nicht ohne einen Brief zu hinterlassen.

"An evtl. Interessenten!

Da ich mich in jeder Beziehung ungerechter Weise meiner Freiheit beraubt fühle und ich keinerlei Lust für eine weitere Festhaltung habe, blieb mir kein anderer Weg. Sobald geordnete Verhältnisse eintreten, werde ich mich selbst bei der österreichischen Behörde melden. Burger."

Am 6. Oktober 1947 trat er - vermutlich mit Hilfe eines Gesinnungsgenossen - eine Beschäftigung als Forstarbeiter in der Steiermark an. Er besaß eine auf Johann Anton Bauer lautende Identitätskarte. Von Mariazell aus besuchte er häufig seine Familie. "Jeden Monat einmal das Wochenende", wie seine Mutter später angab. Beim Überschreiten der Demarkationsgrenze von der Steiermark (britische Zone) nach Niederösterreich (russische Zone) verhörte ihn der russische Posten sechs Stunden lang, dann ließ er ihn frei.

Im Februar 1951 kam es zwischen Burger und seiner Frau zu schweren Streitereien, die mit seiner Einweisung in die Psychiatrie am Wiener AKH endete. "Lebt in der Wahnidee, dass ihn seine Frau betrügt", schrieb der behandelnde Arzt. Nach seiner Entlassung kehrte Burger nach Neunkirchen zurück, wo man ihn verhaftete. Am 21. März wurde der Gefangene nach Wien überstellt, am 31. März vernommen.

Am 19. April 1951 gelang ihm morgens um 9 Uhr die Flucht aus dem Gefangenenhaus in Favoriten. Doch am 18. Juli 1951 erschien Burger abermals - es sollte das letzte Mal sein - in Neunkirchen, bedrohte seine Ehefrau und seine Mutter (beide wurden später der Beihilfe zur Flucht angeklagt) und verschwand. Die alarmierte Polizei beschlagnahmte seine Koffer und fertigte eine genaue Inventarliste an.

1956 betrieb Burger, obwohl der Haftbefehl gegen ihn gerade erneuert worden war, seine Rückkehr nach Österreich. Eine Justizgroteske bahnte sich an, in der ein Wiener Rechtsanwalt für den gesuchten Verbrecher - und zwar unter Verwendung von dessen richtigem Namen - bei den Justizbehörden einen Antrag auf freies Geleit zum Zwecke der Wiedererlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft stellte. Burgers Mutter appellierte an das Bundeskanzleramt, er selbst schrieb dem Bürgermeister von Neunkirchen: ". . . seit Jahren bin ich als sogenannter Kriegsverbrecher gezwungen, unter falschem Namen zu leben". Die Justizbehörden lehnten Burgers Antrag ab, konkrete Schritte zu seiner Ausforschung unternahm man allerdings nicht.

Mitwisser und Helfer

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46 Jahre lebte Burger unbehelligt als kleiner Handelsangestellter, nicht wie vermutet in Südamerika oder dem Nahen Osten, sondern in Deutschland. Schon bei seiner Flucht, auf der er ein Dutzend falsche Namen benutzte, hatte er willige Helfer. Ein intaktes Netzwerk von Mitwissern, Mittätern und Sympathisanten des NS-Regimes ermöglichte Burger den Aufbau einer kleinbürgerlichen Existenz. So überließ ihm ein einstiger SS-Kamerad seinen eigenen Ausweis. Der Inhaber einer Fahrschule verschaffte ihm trotz fehlender Unterlagen einen Führerschein. Ein Fabrikant mit SS-Vergangenheit gab ihm Arbeit in seinem Betrieb und ließ ihn beim Meldeamt registrieren.

Allmählich komplettierte Burger/Bauer seine Dokumente. Er arbeitete still und fleißig als Handelsangestellter und Buchhalter, zahlte Steuern und entrichtete Sozialversicherungsbeiträge. In Essen lernte er eine Frau kennen, die ihn bei sich aufnahm. Die Nachbarn in dem Wohnblock, wo die beiden eine kleine zweieinhalb-Zimmer-Wohnung bewohnten, bezeichneten ihn als unsympathischen, faden, aber harmlosen Spießbürger. Seine Lebensgefährtin ahnte nichts von seiner Vergangenheit. Erinnerungsgegenstände besaß er keine, Gespräche über den Krieg lehnte er ab - das Thema sei zu schmerzlich für ihn. Liefen im Fernsehen Filme über die Konzentrationslager des Dritten Reichs, verließ er kommentarlos den Raum.

1974 erlitt er einen Herzinfarkt und ging in Rente. Die fehlenden Pensionsjahre durfte er nachkaufen. Als Wilhelm Bauer verfasste er sein Testament. Ohne einen anonymen Informanten wären sein Schicksal und seine wahre Identität mit großer Wahrscheinlichkeit ungeklärt geblieben.

Anna Sigmund studierte Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. Sie ist Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und Autorin zahlreicher historischer Bücher, zuletzt "Das Geschlechtsleben bestimmen wir. Sexualität im Dritten Reich" (2008).